Killinger Literaturkunde, Schulbuch

97 Hamanns Schüler Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) vermittelte das neue, vom Gefühl be- stimmte Gott- und Welterlebnis und die Gedanken über Ursprung und Wesen der Sprache den jungen Dichtern. Er war ein bedeutender Denker und Anreger und hatte ein außergewöhnlich feines Einfühlungsvermögen für das Wesen fremder Sprachen und die Anziehungskraft ihrer Dichtungen. Er übersetzte nordische Lieder, englische Balladen, aber auch spanische Romanzen ins Deutsche und begründete damit die Weltliteratur in deutscher Sprache. Die von ihm erstellte Volksliedsammlung nannte er Volkslieder nebst untermischten anderen Stücken (1778/79), die ab 1807 unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern erschien. 1770 kam Herder nach Straßburg, wo ihn der einundzwan- zigjährige Student Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1831) kennen lernte und in der Folge eine Fülle von Anregungen von ihm erhielt. ERLEBnI sLyRIk Goethes Straßburger Gedichte ( Friederikenlieder ) sind aus dem intensiv erlebten Augenblick ent- standen, also spontane Äußerungen, die ursprünglich nicht für die Veröffentlichung bestimmt wa- ren. Der junge Dichter hatte in einem Dorf bei Straßburg die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen gelernt, die beiden verliebten sich ineinander. Er gab seinen Erlebnissen sprachliche Gestalt, um sein Glücksgefühl der Geliebten mitteilen zu können. Man nennt diese Art Gedichte Erlebnislyrik. Neu an der Erlebnislyrik ist das Verhältnis des Menschen zur Natur. Die Vorgänge in der Natur (z. B. die sonnige Landschaft am Morgen, die blühenden Sträucher, die Blumen im Feld) werden zu Sinn- bildern (Symbolen) der subjektiven Befindlichkeit. Lyrisches Ich und Natur entsprechen einander. Der Dichter projiziert seine augenblickliche Stimmung in die Natur, um sie aus ihr wieder herauszulesen. Im Gedicht spricht sich das fühlende Ich in Bildern und Symbolen aus, die der Natur entlehnt sind. Diese Erlebnislyrik wurde viele Jahrzehnte lang zum Inbegriff der Lyrik überhaupt. 2 4 6 8 10 12 Johann Wolfgang Goethe Maifest (vermutlich 1771) Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. O Erd’, o Sonne, O Glück, o Lust, 14 16 18 20 22 24 O Lieb’, o Liebe, So golden schön Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn, Du segnest herrlich Das frische Feld – Im Blütendampfe Die volle Welt! O Mädchen, Mädchen, Wie lieb’ ich dich! Wie blinkt dein Auge, Wie liebst du mich! Herder als Anreger Entsprechung von Ich und Natur g9hf6m DER STURM UND DRANG | 1770 – 1785 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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