Killinger Literaturkunde, Schulbuch
96 Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich zeitlebens ihm Eigen [...] Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Ein- bildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, dass ich Hände und Füße hatte. Das Drama des Sturm und Drang bevorzugt die Prosa, weil der Stil des Originalgenies keine Gebun- denheit der Sprache duldet. Die grammatischen Regeln des Satzbaus werden häufig verachtet, die Figuren sprechen in halben Sätzen, in Ausrufen und einzelnen Worten (expressiver Stil). Es ist das erklärte Ziel der Stürmer und Dränger, die literarische Sprache von ihren Fesseln zu befreien. Die Lyrik wird vor allem beim jungen Goethe zur Erlebnisdichtung (vgl. Seite 97ff.). Das Lied löst das formstrenge Gedicht ab; das Volkslied wird entdeckt und wirkt auf die Kunstdichtung (Goethe, Hei- deröslein ). Neben der liedhaften Erlebnisdichtung steht die Gedankenlyrik in freien Rhythmen (zum Beispiel: Goethe, Prometheus ) und die politische Lyrik (vgl. Seite 100ff. und 106ff.). Einen großen Einfluss übten die Lieder Ossians auf die jungen Dichter aus (vgl. Seite 35). Die „schottische Welle“ brachte die deutsche Kunstballade hervor (Gottfried August Bürger, Lenore u. a.). Die erzählende Dichtung ist im Sturm und Drang nicht so stark vertreten wie die anderen Gattun- gen. Der Roman der Zeit fand seine Ausformung in England und Frankreich. Man erzählte keine er- eignisreichen Geschichten, sondern stellte die seelischen Regungen eines empfindsamen Menschen dar. Besonders beliebt waren die Formen des Tagebuchs und des Briefes bzw. des Briefromans, weil sich hier die Selbstanalyse der feinen Empfindung vollziehen konnte. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers hatte nicht zuletzt deswegen einen so außerordentlichen Erfolg, weil er den Vorstellungen und Wünschen der Leser/innen genau entsprach. voRLäufER unD AnREgER DEs sTuRM unD DRAng Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803) lebt als Erster aus dem Gefühl heraus, zum Dichter be- rufen und Verkünder außerordentlicher Erfahrungen zu sein. Denn Dichten ist für ihn eine Form der Wahrnehmung und Deutung dieser Welt. Was im genialen Schaffensprozess ausgesprochen wird, ist ihm tiefere Wahrheit als die rein verstandesmäßig gewonnene Erkenntnis. In der ersten Strophe der Ode Der Zürcher See feiert Klopstock den Menschen als zweiten Schöpfer: 2 4 Schön ist, Mutter Natur, deiner Er ndung Pracht, Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt. Die aus dem Griechischen stammende Form der Ode bezeichnet ein strophisch gegliedertes Gedicht über ein hohes Thema (Freundschaft, Liebe, Natur), geschrieben in einer feierlichen, gefühlsstarken Sprache. Die Ode – in freien Rhythmen oder in einem griechischen Versmaß abgefasst – erweckt stets den Eindruck des Festlichen. Johann Georg Hamann (1730 – 1788) verkündete, dass die schöpferische Kraft der Eingebung, die Phantasie, mehr bedeute als die Vernunft. Nicht der Verstand, sondern Ahnung und Gefühl seien die Organe, mit denen man die göttliche Sprache verstehe. Die Sprache ist göttlichen Ursprungs und der Dichter das Sprachrohr, mit dem sich Gott der Welt verständlich macht. Lyrische Formen Empfindsamer Roman Dichterisches Sendungsbewusst- sein Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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