Killinger Literaturkunde, Schulbuch

95 „Freiheit“ wurde als Unabhängigkeit der schöpferischen Phantasie von allen Bindungen und Regeln der Kunst verstanden. Alles, was in Regeln gefasst, in Formen gebändigt war, die restriktive Poetik wirkte verächtlich, denn die starke, echte Gemütsbewegung ist regellos. Die Ausbrüche des wahren Genies lassen sich in keine einengende Form zwängen. Das Genie lässt sich nicht vorschreiben, wie Verse zu machen, Dramen zu schreiben sind. Schon Lessing hatte erklärt, das Genie empfange Ge- setze nicht von außen, sondern trage sie in sich, bringe schaffend neue Gesetze hervor. Die Zeit des Sturm und Drang ist durch ein neues, schwärmerisches Verhältnis zur Natur gekenn- zeichnet. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) prägte diese Entwicklung, indem er das neue Naturerlebnis verherrlichte. Er hatte um die Jahrhundertmitte mit seiner preisgekrönten Schrift über die Wirkung der Wissenschaften und der Künste auf die Entwicklung der Menschheit erstmals Aufsehen erregt. Rousseau hatte – gegen die Erwartung seiner Leser/innen – erklärt, Wis- senschaften und Künste hätten den Menschen nicht besser, sondern schlechter gemacht; ihn geistig, seelisch und moralisch verdorben. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Nur im ursprünglichen Zustand sei der Mensch glücklich und gut gewesen. Sein ganzes Elend, das politische wie das soziale, komme daher, dass man sich vom Urzustand, in dem ein natürliches Recht herrschte, abgewendet habe und dem so genannten Fortschritt der Zivilisation nachgerannt sei. „Zurück zur Natur!“ (= zur Natürlichkeit) war ein Schlagwort, das die junge Generation begeistert aufnahm und gegen die Gelehrsamkeit der Väter ins Treffen führte. In seinem Briefroman La Nouvelle Héloïse (Die neue Heloise) hatte Rousseau das „heilige Recht des Herzens“ verkündet, sich von seinen Empfindungen leiten zu lassen, das „Naturrecht der Liebe“, das höher stehe als die gesellschaftlichen Ordnungsformen. Nicht nur die Form des Briefromans wurde von den jungen Dichtern übernommen, sondern auch das Thema der „Nouvelle Héloïse“: der Konflikt zwischen Liebesleidenschaft und gesellschaftlichen Verboten. Der Sturm und Drang strebte eine natürliche Gesellschaftsordnung an. Entscheidend sollte nicht der Geburtsadel sein, sondern die Bildung des Herzens. Dazu gehörte auch eine andere, eine bürgerliche Vorstellung von Moral. Da die Stürmer und Dränger ihre Ideen jedoch nicht in die Realität umsetzen konnten – das Bürgertum war ja politisch machtlos –, wurde die Literatur, besonders die für die Büh- ne bestimmte, dazu verwendet, den Entwurf einer neuen Welt zu zeigen. Die adeligen Machthaber wurden hier vor die Schranken eines Weltgerichts gestellt, der Unmoral bezichtigt und verurteilt (vgl. die bürgerlichen Trauerspiele, Seite 106ff., und die politischen Gedichte, Seite 113ff.). Es gab seit der Mitte des 18. Jahrhunderts viele sentimentale Romane, die rühren und unterhalten sollten; die Werke der Stürmer und Dränger waren hingegen kämpferischer Natur. Sie klagten an. Sie wandten sich gegen den Machtmissbrauch der Fürsten, gegen gesellschaftliche Vorurteile und Standesschranken, gegen die moralische Verurteilung verführter Mädchen (Motiv der Kindesmör- derin), gegen religiöse Unduldsamkeit, gegen die bestehende Kultur überhaupt. DIE EInsTELLung Zu DEn L I TERARI scHEn foRMEn Die bevorzugte Dichtungsgattung war das Drama. Wie für Lessing war auch für die junge Dich- tergeneration Shakespeare das Vorbild des schöpferischen Genies. In seinen Dramen wechselte er mehrmals den Schauplatz; er sprang über Jahre und Jahrzehnte und achtete nur auf die dramatische Wirkung des Geschehens. Begeistert spricht der junge Goethe in seinem Aufsatz Zum Shakespeares- Tag (1771) von dem Eindruck, den der englische Dramatiker auf ihn gemacht hat: Künstlerische Freiheit Wiederentdeckte Natur Leidenschaft des Herzens Bühne als Weltgericht Shakespeare als Vorbild 4xq897 DER STURM UND DRANG | 1770 – 1785 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum es Verlags öbv

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