Killinger Literaturkunde, Schulbuch
94 DER STURM UND DRANG ETWA 1770 BIS 1785 DAs nEuE LEBEnsgEfÜHL Die Dichter des Sturm und Drang führten in manchem die Ideen der Aufklärung (teilweise radikaler) fort, gerieten jedoch in ganz entscheidenden Fragen in Widerspruch zur Vätergeneration. Der Begriff Sturm und Drang wurde vom gleichnamigen Theaterstück von Maximilian Klinger übernommen, das ursprünglich den Titel Wirrwarr trug. Träger der neuen Bewegung waren meist Studenten, die aus dem Kleinbürgertum kamen; nur Jo- hann Wolfgang von Goethe stammte aus einem wohlhabenden Patrizierhaus. Diese Jugend setzte in den siebziger Jahren zum Angriff auf die Werte der Aufklärung an und wandte sich gegen die Vernunft und Zweckmäßigkeit. Dafür wurden nun neue Ideale in den Mittelpunkt gerückt: Freiheit, Genie, Natur, Gefühl. Der Begriff der Freiheit wurde sehr verschieden ausgelegt. Man konnte ihn zum Beispiel politisch verstehen: Abschaffung der Vorrechte des Adels, Beseitigung der Willkürherrschaft der Fürsten. In diesem Sinne konnte Goethes Götz von Berlichingen verstanden werden, wenn er ausrief: „Himm- lische Luft! – Freiheit! Freiheit!“ Schiller ließ auf das Titelblatt der Räuber , seines ersten Dramas, „In tirannos“ (gegen die Tyrannen) drucken. Schubart, der zehn Jahre ohne Prozess vom württembergi- schen Herzog gefangen gehalten wurde, klagte die Fürsten an, dass sie „Hunde nur und Pferd’ und fremde Dirnen / mit Gnade lohnten, und Genie / und Weisheit darben ließen“. Das Wort Freiheit wurde auch als persönliche Freiheit des Genies verstanden, des Menschen, der den Durchschnitt überragt. Ein „Originalgenie“ (gängige Bezeichnung für die Künstler des Sturm und Drang) steht unter eigenen Gesetzen. „Was ist Genie?“, fragt Johann Caspar Lavater (1741 – 1801), ein Schweizer Theologe und Schriftsteller, und er antwortet: Wo Wirkung, Kraft, Tat, Gedanke, Emp ndung ist, die von Menschen nicht gelernt und nicht gelehrt werden kann – da ist Genie. Genie – das allerkennbarste und unbeschreiblich- ste Ding! Fühlbar, wo es ist, und unaussprechlich wie die Liebe. Ein Genie ist für Lavater der „Aussprecher unaussprechlicher Dinge“, das „Licht der Welt“. Das Ge- nie hat alles sich selber zu verdanken. Im vollen Bewusstsein der jugendlichen Kraft und als Ausdruck seines Selbstgefühls lässt Goethe seinen Prometheus sagen: „Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ Wie sehr sich das Genie in Tätigkeiten versprüht, zeigt eine Stelle aus einem Brief Goethes vom März 1775: Heut war der Tag wunderbar. Habe gezeichnet – eine Szene geschrieben. O, wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe, ich ging zugrund. Politische Freiheit Persönliche Freiheit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=