Killinger Literaturkunde, Schulbuch
88 REDEkunsT BEI sHAkEspEARE William Shakespeare (1564 – 1616) galt wegen seiner sprachlichen Virtuosität, seiner Regellosigkeit und seiner Charakterzeichnung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts als Vorbild für das deutsche Drama, besonders für Lessing und später für die Vertreter des Sturm und Drang. Der folgende Aus- schnitt aus der Tragödie Julius Cäsar verdeutlicht Shakespeares künstlerischen Umgang mit Sprache und Rhetorik. Er wechselt in den meisten seiner Dramen zwischen Prosa und Vers. Sein Versmaß ist der jambi- sche Fünfheber, der nur an besonders wichtigen Stellen und zur Verdeutlichung eines Abschlusses gereimt ist. Den reimlosen jambischen Fünfheber nennt man Blankvers. Weder Shakespeare noch seine Übersetzer handhaben den Jambus starr. Shakespeares jambischer Fünfheber wurde vor allem wegen seiner Geschmeidigkeit und seiner Fähigkeit, die Sprache zu verdichten, zum Vorbild für Lessing und die deutsche Klassik. Im Jahre 44 vor Christus wird Gaius Julius Cäsar, Herr über ein Weltreich und auf dem Höhepunkt seiner Macht, während einer Senatsversammlung von Verschwörern erstochen – eines der berühm- testen Attentate der Weltgeschichte. Attentäter werden meist gegensätzlich gedeutet: als Verbre- cher und als Freiheitshelden. In der 2. Szene des 3. Aktes kommen Brutus und Cassius nach dem Mord an dem Diktator auf das Forum. Die versammelten Bürger fordern ungestüm Rechenschaft über die Tat. Der Gang der Ge- schichte scheint nach den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Stunden einen Augenblick lang stillzustehen. Von der Reaktion des Volkes wird es abhängen, ob die Verschwörer oder die Freunde Cäsars in Zukunft Rom beherrschen. Brutus entschließt sich zu einer Ansprache an das Volk: dramentext erläuterung der redemittel BRUTUS: Römer! Mitbürger! Freunde! Mit der dreifachen Anrede, die immer persönlicher wird, will Brutus jeden ansprechen. Außerdem ge- winnt er Zeit, während der sich die aufgeregte Men- ge beruhigen kann. Hört mich meine Sache führen und seid still, damit ihr hören möget! Noch keine Aussage zur Sache, lediglich Appell an die Zuhörer. Der Redner erzeugt Gespanntheit auf das Kommende. Glaubt mir um meiner Ehre willen, und hegt Achtung vor meiner Ehre, damit ihr glauben mögt! Pathetisch beschwörender Redestil, der bis knapp vor das Ende durchgehalten wird. Brutus beruft sich auf seine Ehrenhaftigkeit als etwas Unbezweifelba- res, Selbstverständliches. Richtet mich nach eurer Weisheit, und weckt eure Sinne, um desto besser urteilen zu können! Er schmeichelt dem Volk, indem er es zum Richter macht und zugleich an seine Weisheit appelliert. – Bis hierher nur Imperative in den Hauptsätzen! Ist jemand in dieser Versammlung, irgendein herzli- cher Freund Cäsars, dem sage ich: des Brutus Liebe zum Cäsar war nicht geringer als seine. Übergang zum eigentlichen Thema. Überraschungs- moment: Brutus spricht zuerst von seiner Liebe zu Cäsar. Dabei redet er von sich in der 3. Person und reiht sich in die Gemeinschaft der Freunde Cäsars ein. Wenn dieser Freund dann fragt, warum Brutus ge- gen Cäsar aufstand, ist dies meine Antwort: Nicht weil ich Cäsarn weniger liebte, sondern weil ich Rom mehr liebte. Vorwegnahme einer zu erwartenden Frage, wo- durch die Initiative beim Redner bleibt. Wie im Satz vorher feierliche Ankündigung des Redekerns. Die- ser in wirkungsvoller Redefigur: symmetrisch gebau- te Kausalsätze mit gegenübergestellten Tonwörtern als Oppositionen (Cäsar – Rom, weniger – mehr). analyse rhetorischer mittel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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