Killinger Literaturkunde, Schulbuch

87 sie die nötige „tragische Fallhöhe“ aufweisen und das Interesse des Publikums wecken können. Lessing stellt sein bürgerliches Theater dagegen: Er lässt die Tragik aus einer allgemein menschlichen Konfliktsituation entstehen. Er spielt die Wahrheit in der Charakterzeichnung und die Erschütterung des Publikums gegen das höfische Repräsentationstheater aus. So begründet Lessing ein deutsches bürgerliches Trauerspiel. Seine Heldinnen und Helden sollten „vom gleichen Schrot und Korn“ sein wie die Zuschauer/innen. Seine Leitbilder sind nicht die französischen Klassiker Corneille und Racine, sondern die antiken Tragiker und Shakespeare. Er bewundert das Genie des Engländers, sein Natur- talent, seine Treffsicherheit in der psychologischen Charakterzeichnung. In den Briefen, die neueste Literatur betreffend wendet sich Lessing mit scharfen Worten gegen Gottsched und das von ihm als musterhaft erklärte französische Theater. Lessing weist darauf hin, dass das englische Theater der deutschen Dramatik viel stärkere Impulse zu geben vermöge: 1 5 10 15 20 „Niemand“, sagen die Verfasser der Bibliothek 1 , „wird leugnen, dass die deutsche Schau- bühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.“ Ich bin dieser Niemand; ich leugne es geradezu. Es wäre zu wünschen, dass sich Herr Gott- sched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten oder sind wahre Verschlimmerungen. Als die Neuberin blühte und so mancher den Beruf fühlte, sich um sie und die Bühne verdient zu machen, sah es freilich mit unserer dramatischen Poesie sehr elend aus. Man kannte keine Regeln; man bekümmerte sich um keine Muster. Unsere Staats- und Helden- aktionen waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsere Lustspiele bestan- den in Verkleidungen und Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfälle derselben. Dieses Verderbnis einzusehen, brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein. Auch war Herr Gottsched nicht der Erste, der es einsah; er war nur der Erste, der sich Kräfte genug zutraute, ihm abzuhelfen. Und wie ging er damit zu Werke? Er verstand ein wenig Französisch und ›ng an zu übersetzen; er ermunterte alles, was reimen und Oui Monsieur verstehen konnte, gleichfalls zu übersetzen; er verfertigte, wie ein schweizerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere seinen Cato 2 ; [...] er legte seinen Fluch auf das Extemporieren 3 ; er ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben, welches selbst die größte Harlekinade war, die jemals gespielt worden; kurz, er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines französierenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französische Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei oder nicht [...] 12. Unterteilen Sie den Ausschnitt in die einzelnen Gedankengänge und finden Sie für jeden der Abschnitte treffende Überschriften. 13. Besprechen Sie anhand von Zitaten aus dem Text, in welcher Form Lessing an Gottsched Kritik äußert, wie Lessing die Situation vor Gottscheds Reformen beurteilt. 1 Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste , 1757/58 herausgegebene Zeitschrift von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn 2 Der sterbende Cato , regelmäßiges Trauerspiel von Gottsched, als Musterdrama gedacht (vgl. Seite 78) 3 extemporieren: aus dem Stegreif sprechen ed4775 die auFKlÄrunG | 1700 – 1770 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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