Killinger Literaturkunde, Schulbuch
82 Ich habe durch mein ganzes Leben befunden, dass sich der Charakter eines Menschen aus nichts so sicher erkennen lässt, als aus einem Scherz, den er übel nimmt. Über nichts wird üchtiger geurteilt als über die Charaktere der Menschen, und doch sollte man in nichts behutsamer sein. [...] Ich habe immer gefunden, die so genannten schlechten Leute gewinnen, wenn man sie genauer kennen lernt, und die guten verlieren. Wer in sich selbst verliebt ist, hat wenigstens bei seiner Liebe den Vorteil, dass er nicht viele Nebenbuhler erhalten wird. „Wovon das Herz nicht voll ist, davon geht der Mund über“, habe ich öfter wahr empfun- den als den entgegengesetzten Satz. Es ist eine ganz bekannte Sache, dass die Viertelstündchen größer sind als die Viertelstun- den. Nichts kann mehr zu einer Seelenruhe beitragen, als wenn man gar keine Meinung hat. Ein Unverschämter kann bescheiden aussehen, wenn er will, aber kein Bescheidener unver- schämt. Um vergnügt oder vielmehr lustig in der Welt zu sein, wird nur erfordert, dass man alles nur üchtig ansieht; sowie man nachdenkender wird, wird man auch ernsthafter. 10.Wählen Sie einen dieser Aphorismen und schreiben Sie dazu einen Kommentar, der die Aus- sage erläutert. LEss Ing ALs AufkLäRER unD REfoRMER die toleranzidee Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) gab 1774 philosophisch-religiöse Schriften eines Freundes heraus, dessen Namen er jedoch nicht preisgab, in denen biblische Glaubensinhalte (Wunder, Aufer- stehung Jesu Christi etc.) als unvereinbar mit der Vernunft dargestellt wurden (vgl. Vernunftreligion). Die strenggläubigen protestantischen Theologen, besonders der Hamburger Hauptpastor Goeze, sa- hen darin einen Angriff auf den Offenbarungsglauben und die Bibel. Es kam zu einem Streit, den der Braunschweiger Herzog dadurch beenden wollte, dass er Lessings Schriften der Zensur unterwarf. Lessing wich nun in die Dichtung aus und schrieb sein Drama Nathan der Weise . Die Handlung spielt zur Zeit der Kreuzzüge und ist frei erfunden: In Palästina leben Juden, Christen und Moslems. So sind auch die Hauptpersonen des Dramas Angehörige der drei Glaubensrichtun- gen. Nach der Rückkehr von einer Geschäftsreise erfährt der Jude Nathan, dass ein christlicher Tem- pelherr seine Pflegetochter Recha aus einem brennenden Haus gerettet habe. Dieser wiederum ver- dankt sein Leben der Begnadigung durch den muslimischen Herrscher Sultan Saladin. Die Vertreter der drei Religionen (mit Ausnahme Nathans) hegen gegeneinander religiös motivierte Vorurteile. Fragmentestreit Nur zu P üfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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