Killinger Literaturkunde, Schulbuch
81 40 45 50 55 Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht [...]. Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage, ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen würde. [...] Ein Mensch kann zwar für seine Person, und auch alsdann nur auf einige Zeit, in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Mensch- heit verletzen und mit Füßen treten. [...] Wenn nun gefragt wird: „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?“, so ist die Antwort: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Dass die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen schon imstande wären oder darein auch nur ver- setzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, dass jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeichen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung. 6. Geben Sie den Inhalt von Kants Einleitungssatz (Zeile 1) in Ihren eigenen Worten wieder. 7. Beschreiben Sie anhand von Textzitaten, warum niemand darauf verzichten darf, ein aufgeklärter Mensch zu werden und als solcher zu leben und zu handeln, welches das größte Hindernis auf dem Weg zur Mündigkeit des Einzelnen ist, welche „Vormünder [...] die Oberaufsicht [...] gütigst auf sich genommen haben“. 8. Diskutieren Sie, welche Personen, Gruppen oder Institutionen heute noch Einzelnen oder gan- zen Gruppen von Menschen das Denken abnehmen möchten. 9. Kommentieren Sie Kants Stil und beschreiben Sie, wie dieser Text auf heutige Leser/innen wirkt. • Beschreiben Sie, wie heutige Leser/innen auf Kants Text reagieren würden. aphorismen Der Aphorismus war in der Aufklärung eine beliebte literarische Ausdrucksform. Kennzeichnend sind die Kürze und der geistreiche Schliff. Aphorismen bedienen sich häufig rhetorischer Mittel, wie der Antithese, der Metapher, des logischen Widerspruchs u. a. Sie drücken eine subjektive Meinung, eine Einsicht, eine aus dem Widerspruch gewonnene Erkenntnis aus und sollen zum kritischen Nach- denken anregen. Sammlungen von Aphorismen gibt es seit der Antike (Kaiser Marc Aurel). Georg Christoph Lichtenberg Aus den Aphorismen Wie glücklich würde mancher leben, wenn er sich um anderer Leute Sachen so wenig be- kümmerte als um seine eigenen. jb73u8 die auFKlÄrunG | 1700 – 1770 Nur zu P üfzwecken – Eigentum es Verlags öbv
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