Killinger Literaturkunde, Schulbuch

8 den Endreim der lateinischen Dichtung. Man spürt, welche Schwierigkeiten Otfried zu überwinden hatte, theologische Erkenntnisse auf Fränkisch auszudrücken und auch noch in Verse zu bringen. Beide Werke, sowohl der Heliand als auch Otfrieds Epos, sind insofern grundlegend für die deut- sche Literatur und die weitere Entwicklung des Geisteslebens, als sie den deutschen Stämmen das christliche Heilsgeschehen und die antike Sprachkultur vermitteln. Es wird 900 Jahre dauern, ehe sich wieder ein Dichter, nämlich Friedrich Gottlieb Klopstock, an die dichterische Darstellung des Erlösungswerkes Jesu wagt. Eines der rätselhaftesten alten Sprachdenkmäler aus dem 9. Jahrhundert ist das Muspilli , eine Art Predigt von den letzten Dingen in Versform. Schon das Wort „muspilli“ ist sprachlich nicht mehr zu klären, es bedeutet im Textzusammenhang Weltuntergang, letztes Gericht, eine heidnische Vorstel- lung von den Schrecknissen der letzten Tage. Anfang und Schluss des Gedichts fehlen; erhalten sind 103 Verszeilen, die in ein lateinisches Buch geschrieben wurden. Der Schreiber hatte eine wesentlich ältere Vorlage, die er ziemlich entstellt haben muss. Die Sprachform ist im Wesentlichen bairisch. Im ersten Teil des Gedichts kämpfen Engel und Teufel um die Seele eines eben verstorbenen Men- schen, ein Motiv, das sich später häufig findet, z. B. in Goethes Faust . Der zweite Teil berichtet vom Weltuntergang: Elias kämpft gegen den Teufel. Das Blut des verwundeten Engels entzündet auf der Erde einen Weltenbrand. Schließlich erscheint Gott und hält Gericht. 2 4 6 8 so daz Eliases pluot in erda kitriu„t, so inprinnant die perga, poum ni kistentit enihc in erdu, aha artruknent, muor varswilhit sih, svilizot lougiu der himil, mano vallit, prinnit mittilagart. sten ni kistentit. verit denne stuatago in lant. verit mit diu vuiru viriho wison. dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille. Wenn des Elias Blut auf die Erde tropft, so entbrennen die Berge, kein Baum bleibt stehen, keiner auf der Erde, die Wasser vertrocknen, das Moor saugt sich auf, es verschwelt in der Lohe 1 der Himmel, der Mond fällt, es brennt Mittelgard. Kein Stein bleibt stehen. Es fährt der Tag des Gerichts in das Land. Er fährt mit dem Feuer, die Menschen zu strafen. Da kann kein Vetter dem anderen helfen vor dem Weltbrand (Muspilli). 1 Lohe: Feuersglut Reliefbild Otfrieds von Weißenburg in Wissembourg Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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