Killinger Literaturkunde, Schulbuch

78 hinausgehen. Darum verbannte Gottsched alles Übernatürliche, alles Wunderbare aus der Dichtung und zugleich damit jedes leidenschaftliche Gefühl, weil Leidenschaftlichkeit den zweckmäßigen Ge- brauch der Vernunft ausschließe. In seinem Versuch einer kritischen Dichtkunst (1730) verweist Gottsched die Deutschen auf die Vorbildlichkeit der französischen Klassiker, Pierre Corneille und Jean Racine, die nach seiner Meinung die wahren Erben der Antike waren; denn sie beachteten im Drama genau die so genannten drei Einheiten, die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung: Das dramatische Geschehen muss auf einem Schauplatz, an einem Tage spielen und darf nur eine Hand- lung haben, die in sich geschlossen und logisch aufgebaut sein muss (vgl. Seite 138). Shakespeares Dramatik war Gottsched wegen ihrer Unregelmäßigkeit und Wildheit, wegen der Vermischung von Tragischem und Komischem ein Gräuel. Gottsched verfasste Übersetzungen französischer Stücke, die als Vorbilder dienen sollten. Er schrieb auch selbst ein „regelmäßiges“ (= den Regeln entsprechendes) Theaterstück, den Sterbenden Cato , als Muster und ließ nach seinen Ideen Dramen anfertigen. Caroline Neuber, die Leiterin einer Theatertruppe, unterstützte Gottscheds Bestrebungen, führte seine Musterstücke auf und half ihm, die Bühne von den derben Späßen und groben Possen des Hanswurst zu säubern. Um dem Publikum die Verdammung dieser Figur deutlich vor Augen zu führen, verbrannte die „Neuberin“ sogar eine Hanswurstpuppe auf offener Bühne. Gottscheds erziehungsbemühungen Gottsched gab 1725/26 nach englischem Vorbild die moralische Wochenschrift Die vernünftigen Tadlerinnen heraus. Darin beschäftigte er sich mit der Unmündigkeit der „Frauenzimmer“. Diese geistige Unselbständigkeit wollte er durch Bildung beseitigen. Er legte seine Ansichten Frauen in den Mund, indem er weibliche Redakteurinnen erfand und sie zu den Leserinnen sprechen ließ. 1 5 10 15 Johann Christoph Gottsched Zur Erziehung des weiblichen Geschlechts Die übliche Auferziehung, dass man Personen von unserm Geschlecht in der äußersten Unwissenheit stecken lässt, hat den Sittenlehren der vernünftigen Tadlerinnen wenig Lese- rinnen zubereitet. Der größte Teil unserer Frauenzimmer wird in der Jugend hierin verwahr- lost. Wie übel geht man mit unseren Gemütskräften um! Man glaubt, es sei zu unserem Unterricht genug, wenn man uns die Buchstaben zusammensetzen und, zuweilen schlecht genug, nachmalen lehrt. Darauf hält man uns eine Französin, um eine fremde Sprache in das Gedächtnis zu fassen, da wir doch die Muttersprache nicht recht verstehen. Unser Ver- stand wird durch keine Wissenschaft geübt, und man bringt uns, außer einigen – oft übel genug aneinander hängenden – Grundlehren der Religion, nichts bei; ja auch diese werden meistenteils mehr dem Gedächtnis als dem Verstande eingeprägt. Wenn man die Schule ver- lässt, so verlässt man, sofern ich etwa ein Gebetbuch ausnehme, zugleich alle Bücher. Oder wo man ja etwas liest, ist es ein läppischer und närrischer Roman, durch den die vorher schon eitlen Personen unseres Geschlechts noch mehr in ihrer Eitelkeit bestärkt werden. Die Schriften, die zur Verbesserung des Verstandes und Willens etwas beitragen könnten, dünken uns zu schwer, zu unverständlich, zu trocken, zu ernsthaft und zu verdrießlich. Und da man unsere Seele niemals zum Nachdenken gewöhnt hat, so wird es uns sauer, solche Bücher, die mit Überlegung gelesen sein wollen, zu verstehen. [...] Ich bin jetzt nicht im Französische autoren als Vorbilder Gereinigtes, regelmäßiges drama moralische Wochenschriften emanzipations­ gedanke im 18. Jahrhundert Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=