Killinger Literaturkunde, Schulbuch

75 1. Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Rationalismus und Empirismus. Stellen Sie Hypo- thesen darüber auf, warum die Aufklärung das Zusammenspiel beider Strömungen braucht. Der an sich alte Gedanke des Naturrechts wurde wieder aufgenommen und neu durchdacht: Je- dem Menschen kommen von Natur bestimmte Rechte zu, so das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum. Alle Menschen sind gleich, jeder ist frei geboren. Der Staat hat die Aufgabe, diese natürlichen Rechte des Einzelnen zu schützen. In der Zeit des fürstlichen Absolutismus und der Leib- eigenschaft mussten diese Gedanken ungeheuer revolutionär wirken. Nach diesem Ansatz wurden zum ersten Mal die Menschenrechte formuliert und 1789 im Rahmen der Französischen Revolution verkündet. Die Erklärung der Menschrechte beruht auf den Theorien verschiedenster Philosophen (u. a. Locke, Rousseau, Kant), aber auch auf dem Vorbild der amerikanischen Verfassung von 1776. Sie wirkt bis in die Gegenwart nach, und zwar in der Erklärung der Menschenrechte durch die Ver- einten Nationen (1948) und in der Einrichtung demokratischer Staatswesen. Eine neue Lehre vom Staat wird begründet: Der Staat beruht auf einer Art „Gesellschaftsvertrag“. Aus dem Wunsch nach Frieden und Sicherheit sind die Menschen übereingekommen, einen Herr- scher einzusetzen, der die Einhaltung der Naturrechte zu gewährleisten hat. Da der Herrscher alle seine Macht vom Volk erhält, kann ihm die Macht auch wieder entzogen werden, wenn er sie missbraucht. In diesem Gedanken liegen die Wurzeln der Französischen Revolution von 1789. Der französische Gelehrte Charles de Montesquieu (1689 – 1755) hat die neue Staatslehre mit der For- derung nach Gewaltentrennung weiterentwickelt. Bis dahin schien es selbstverständlich, dass der König die Gesetze gab, darauf achtete, dass sie eingehalten wurden, und oberster Richter war. Das führte häufig zum Missbrauch der Macht. Die Gewaltentrennung sieht drei voneinander unabhängi- ge Einrichtungen vor: Vertreter des Volkes bilden die gesetzgebende Körperschaft (Legislative: heute bei uns das Parlament), die Regierung sorgt für die Durchführung und Einhaltung der beschlossenen Gesetze (Exekutive) und ein von beiden unabhängiger Richterstand spricht Recht nach den gelten- den Gesetzen (Judikatur). Auch auf religiösem Gebiet hat die Aufklärung große Veränderungen hervorgerufen. Die beiden Kir- chen, vor allem die protestantische, waren in den Lehrsätzen des 16. Jahrhunderts erstarrt, weshalb viele gläubige Menschen sich im Pietismus zusammenfanden, einer Bewegung, die eine Erneuerung des frommen Lebens anstrebte und die Kirche reformieren wollte. An die Stelle der kirchlichen Or- ganisation sollte die Gemeinschaft der ernsthaft gläubigen Christen treten. Ein starkes Gefühlsleben und große Empfindsamkeit sind für die „unsichtbare Kirche“ des Pietismus kennzeichnend. Die Aufklärer wollten hingegen an die Stelle der Offenbarungsreligion eine Vernunftreligion setzen: Alle Glaubensinhalte sollten mit dem logischen Denken in Einklang zu bringen sein. Sehr energisch wandten sich manche Aufklärer gegen die Vormundschaft der Kirche und beanspruchten für den Einzelnen die Möglichkeit freier religiöser Betätigung. Da man über die etablierten Kirchen und Konfessionen hinweg auf die religiöse Erlebnisfähigkeit des Menschen zurückgriff, war die Forde- rung nach Toleranz die zwingende Folge. Unter „Toleranz“ verstand man die öffentliche Duldung aller Religionen und religiösen Gemeinschaften. Der Maßstab für den Wert einer Religion lag für den Aufklärer in ihrer praktischen Wirkung (vgl. die Politik Josephs II. gegenüber der Kirche in Ös- terreich); denn jede Religion habe die Aufgabe, den Menschen zu bessern, ihn zu einem sittlichen Wesen zu machen. Diese Aufgabe kann aber auch die Erziehung erfüllen. Die Aufklärer waren zutiefst überzeugt, dass der Fortschritt der Menschheit auf der Bildung und Erziehung jedes Einzelnen beruhe. Die Einfüh- rung der allgemeinen Schulpflicht geht auf diese Überzeugung zurück. Das bestehende Schulwesen wurde reformiert. Das Auswendiglernen von Lehrsätzen sollte durch verstehendes Lernen und durch eine lebenspraktische Ausrichtung des Unterrichts ersetzt werden. Die Erkenntnisse des Verstandes – so forderte man – müssen praktisch anzuwenden, das Leben muss vernünftig zu gestalten sein. recht auf leben, Freiheit, eigentum Staat als Schützer der natürlichen rechte unterordnung der religion unter die Vernunft Glaube an die erziehbarkeit des menschen f459va die auFKlÄrunG | 1700 – 1770 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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