Killinger Literaturkunde, Schulbuch

74 BEfREIung Aus DER unMÜnDIgkEI T Das Zeitalter der Aufklärung wird heute als Beginn der neueren Zeit angesehen. Zwei Strömungen haben die Aufklärung hauptsächlich vorbereitet: der Rationalismus und der Empirismus. Der Rationalismus (lat. ratio = Vernunft, Verstand) hatte seine Geburtsstätte in Frankreich. Sein Be- gründer war der Mathematiker und Philosoph René Descartes (1596 – 1650). Er ging davon aus, das überlieferte Wissen nicht einfach hinzunehmen, sondern alles, was er von anderen gelernt hatte, in Zweifel zu ziehen. Dabei fand er heraus, dass zunächst nur eine einzige Erkenntnis unbezweifelbar und daher wahr sei, der Satz: „Ich denke, also bin ich“ (= also bin ich als denkendes Wesen vor- handen). Und er folgerte: Alles, was vom Verstand ebenso klar und deutlich erkannt werden kann wie dieser Satz, ist wahr. Damit war die Ratio, der menschliche Verstand, zur einzigen Erkenntnis- quelle, zum Maßstab für wahr und nicht wahr, für richtig und nicht richtig geworden. Durch bloßes Denken, durch logisches Verknüpfen und Folgern kann der Mensch zur Erkenntnis Gottes und der Gesetzmäßigkeiten in der Natur – zur Wahrheit – vordringen. Die Heimat des Empirismus (Empirie = Erfahrung) ist England, wo als Erster John Locke (1632 – 1704) die Beobachtung zur Grundlage wissenschaftlicher Aussagen machte. Denn – so behauptete er – menschliche Erfahrung, nachprüfbares Wissen bilde sich allein aus den Wahrnehmungen unse- rer Sinne, aus der Beobachtung. „Es ist nichts in unserem Verstand als das, was wir vorher mit unseren Sinnen wahrgenommen haben“, heißt es bei dem englischen Philosophen David Hume (1711 – 1776). Die Beobachtung war die Methode der Erkenntnisgewinnung und nicht überlie- ferte Lehrsätze geheiligter Autoritäten: Damit war der Weg für eine moderne Naturwissenschaft gebahnt. Als die fortschrittlich gesinnten Gelehrten und Schriftsteller des frühen 18. Jahrhunderts für die neue Geistesbewegung einen Namen suchten, der auch von Nichtgebildeten verstanden werden konnte, bot sich ihnen das Verb „aufklären“ als Vergleichswort an: Wie das Licht der Sonne die Dunkelheit vertreibt und alles deutlich erkennbar macht, „aufklärt“, so sollte das helle Licht der Vernunft die Finsternis des Aberglaubens, der blinden Untertänigkeit, der Unduldsamkeit und dumpfen Triebhaf- tigkeit besiegen. Um die Mitte des Jahrhunderts war das damals neu gebildete Nomen „Aufklärung“ bereits zum Schlagwort geworden. Die Aufklärung war eine geistige Bewegung, die vom städtischen Bürgertum getragen wurde und beinahe ganz Europa erfasste. Ihr oberstes Ziel war die Verbreitung der Bildung und die Erziehung des Menschen zu einer freien, von der Vernunft geleiteten Persönlichkeit. So begründete die Aufklä- rung eine Vernunftkultur, ja einen Kult der Vernunft. Man hielt die Erkenntnisfähigkeit des mensch- lichen Geistes für grenzenlos und glaubte an den ständigen Fortschritt der Vernunfterkenntnis bis zur höchsten Vollkommenheit. ratio als erkenntnisquelle erfahrung als erkenntnisquelle aufklärung die auFKlÄrunG ETWA 1700 BIS 1770 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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