Killinger Literaturkunde, Schulbuch

7 Das Hildebrandslied wurde – wie alle Heldenlieder – zunächst mündlich weitergegeben, ehe es in einer althochdeutsch-altsächsischen Mischsprache niedergeschrieben wurde. Das Motiv des Zweikampfes zwischen dem nach langer Abwesenheit heimkehrenden Vater und dem misstrauischen Sohn findet sich in der Weltliteratur mehrmals, doch das Besondere des Hilde- brandsliedes liegt darin, dass der Vater weiß, wen er tötet. 1. Diskutieren Sie die Motive für diese Auseinandersetzung. • Welche Rolle spielt dabei der Ehrbegriff der damaligen Zeit? • Inwiefern ist Ehre nach wie vor die Ursache für Konflikte in der heutigen Zeit? Im so genannten Jüngeren Hildebrandslied , das zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert häufig ge- druckt wurde, zeigt sich der christliche Einfluss in der ein Jahrtausend umfassenden Überlieferung. 2 Er schloss im auf sein güldin helm und kust in an sein munt: „Nun muess es got gelobet sein! Wir sint noch beid gesunt.“ Er öffnete ihm den goldenen Helm und küsste ihn auf den Mund: „Nun soll Gott gelobt sein! Wir sind noch beide unversehrt.“ 2. Vergleichen Sie den Schluss des Jüngeren Hildebrandsliedes mit der älteren Vorlage. • Worin zeigt sich der Einfluss des Christentums? Der in die Tragödie führende Gedanke von der ritterlichen Ehre hat sich zur rührenden Familienge- schichte gewandelt. Neben diesen Resten germanischer Dichtung gibt es eine Fülle althochdeutscher Literatur christli- chen Inhalts. Im 9. Jahrhundert entstanden zwei große Epen, die das Leben und die Lehre Jesu zum Thema haben. Sie gelten als der Anfang einer schriftlichen deutschen Literatur. Das eine der beiden Epen, der Heliand (Heiland), entstand um 840 und besteht aus 6000 Langver- sen mit dem altgermanischen Stabreim. Der uns unbekannte Dichter muss ein vornehmer Sachse gewesen sein, der sowohl die weltliche altsächsische und angelsächsische Dichtung kannte als auch über eine gründliche geistliche Bildung verfügte. Auftraggeber war König Ludwig (der Sohn Karls des Großen). Zweck des Gedichts war es, die Bibel den Laien, vor allem den Adeligen, in ihrer Spra- che (dem Altsächsischen) vorlesen zu können. Der Dichter hat die vier Evangelien in eine einzige Erzählung zusammengefasst. Man nennt dies Evangelienharmonie. Die Leistung des Autors besteht vor allem in der sprachlichen Übersetzung des Inhalts. Der Stil und die Erlebnisart der biblischen Berichte sind der altsächsischen Welt, die erst kurz zuvor von Karl dem Großen auf blutige Weise christianisiert worden war, angepasst: Christus erscheint als König aus Davids Geschlecht, die Apostel sind seine Gefolgsleute (wie in der ger- manischen Gesellschaftsordnung). Petrus wird als „schneller Schwertdegen“ dargestellt, Pilatus als Herzog. Neben Gottes Willen spielt die germanische Vorstellung vom Schicksal eine große Rolle. Trotz dieser Zugeständnisse an die Denkweise der Empfänger handelt es sich um ein Werk, das den christlichen Geist, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes und der Erlösung des Menschen, vermitteln will. Das zweite große Epos, das nur wenige Jahrzehnte jünger ist, stammt von dem Mönch Otfried von Weißenburg, der in einem Kloster im südlichen Elsass lebte. Mit seiner Evangelienharmonie wollte auch er das Buch der Bücher dem Laien vermitteln, der kein Latein verstand. Doch hier wird viel stärker als im Heliand die theologische Auslegung des Geschehens betont. Außerdem unterscheidet sich Otfrieds Dichtung vom Heliand durch die Übernahme spätantik-christlicher Kunstmittel: Otfried hält sich an den lateinischen Satzbau, an die antike Rhetorik, vor allem aber verwendet er als Erster evangelien­ harmonien endreim 9dq9m9 Frühmittelalter | 8. – 10. Jahrhundert Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=