Killinger Literaturkunde, Schulbuch

60 gar den fernen Osten. Simplicissimus hat den Erdkreis im wörtlichen und im übertragenen Sinn „er-fahren“. Diese Erfahrung seines Helden fasst Grimmelshausen in dem Wahlspruch „Der Wahn betrügt“ zusammen. Die verlockende, verwirrende, verderbende Welt ist Wahn im Sinn von trügerischer Erwartung; alles in ihr ist vergänglich. Die innere Läuterung führt Simplicissi- mus daher zur Abkehr von der Welt und zu Gott hin. Nur so ist Erlösung möglich. Mit diesem Grundgedan- ken entspricht Grimmelshausen der in vielen Werken ausgedrückten Lebensauffassung des Barock. Der reale Hintergrund des Simplicissimus ist der Drei- ßigjährige Krieg. Grimmelshausen hat eigene Erlebnisse verarbeitet: Er wurde von Landsknechten aus seinem zerstörten Vaterhaus vertrieben, von Kroaten geraubt und zum Musketier gemacht. Simplicissimus trägt auto- biographische Züge, ist jedoch nicht mit Grimmelshau- sen gleichzusetzen. Grimmelshausen hat auch Berichte anderer verwendet, Nachschlagewerke und Geschichts- bücher benützt, Schwänke und Anekdoten aus ver- schiedenen Sammlungen übernommen. Und er hat seiner Phantasie freien Lauf gelassen. So ent- stand ein heute unauflösbares Geflecht aus persönlicher Erfahrung und literarischer Überlieferung. Erzählformen Ein epischer (erzählender) Text kann in der Ich-Form oder in der Er/Sie-Form geschrieben sein; selten ist die Du-Form (vgl. Ilse Aichinger, Spiegelgeschichte ). Die Ich-Figur darf nicht einfach mit der Autorin bzw. dem Autor gleichgesetzt werden, vielmehr erfindet diese/r eine Figur, die das Geschehen aus ihrer Sicht schildert. Dass dabei manches an Erlebnissen und Anschauungen der Autorin oder des Autors einfließt, ist selbstverständlich. Woher sollte die Figur ihre Erfah- rungen haben, wenn nicht von der Autorin oder vom Autor? Der Simplicissimus ist in der Ich-Form geschrieben. Grimmelshausen und Simplicissimus sind aber nicht identisch: Simplicissimus wird nach dem Krieg Einsiedler, Grimmelshausen Gastwirt. Dies ist nicht der einzige Unterschied. Autor/in Ich-Figur Leser/in Die Ich-Figur kann ihre Erlebnisse unmittelbar danach aufschreiben (zum Beispiel Goethes Werther) oder aus der Erinnerung nach mehr oder weniger langem zeitlichem Abstand. In die- sem Fall muss man das erlebende Ich und das erzählende Ich trennen; denn das erzählende Ich sieht und beurteilt die Erlebnisse nach vielen Jahren anders. 6. Untersuchen Sie die Erzählposition in Grimmelshausens Roman: • Stellen Sie fest, wer im Simplicissimus erzählt. • Beschreiben Sie, was das erzählende Ich vom erlebenden Ich trennt. • Kommentieren Sie, wie Grimmelshausen und der Ich-Erzähler zueinander stehen. Fiktionalisierung der Realität Titelseite der Erstausgabe des Simplicissimus , 1669. Im Barock wird die Titelseite dazu genutzt, eine Art Inhaltsangabe abzudrucken und für das Buch zu werben. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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