Killinger Literaturkunde, Schulbuch

6 Aus der Welt des Adels stammt das einzige uns erhaltene Heldenlied, das so genannte Hildebrands- lied . Es wurde von zwei Mönchen des Klosters Fulda um 810 auf die erste und die letzte Seite eines lateinischen religiösen Buches geschrieben. Warum die beiden Mönche dies taten, weiß man heute nicht. Manche meinen, dies sei eine reine Schreibübung gewesen, andere behaupten, die Mönche wollten den Sachsen, für die sie das Buch abschrieben, einen idealen Helden vorstellen. Das Hildebrandslied , das nur ein Glied einer ganzen Kette von Heldenliedern war, entstand wahr- scheinlich Anfang des 8. Jahrhunderts am Hof des Langobardenkönigs im heutigen Oberitalien. Der historische Hintergrund ist die Zeit der Völkerwanderung: Hildebrand hat Frau und Sohn verlassen und ist als Waffenmeister mit Dietrich von Bern (dem historischen Ostgotenkönig Theoderich) ge- zogen, schließlich vor König Odoaker in die Verbannung an den Hunnenhof geflohen. Nun kehrt er nach 30 Jahren heim. Doch an der Grenze stellt sich ihm ein junger Krieger mit seinem Gefolge entgegen. Hildebrand fragt ihn, „wer sin fater wari“ (wer sein Vater wäre). So erfährt er, dass es Hadubrand, sein einziger Sohn, ist, der ihm gerüstet gegenübersteht. Hadubrand weist die golde- nen Armringe, die ihm der Vater schenken möchte, mit harten Worten zurück und schilt Hildebrand einen listigen alten Hunnen; denn ihm haben Seefahrer berichtet, dass sein Vater im Kampf getötet worden sei; „tot is hiltibrant“, schließt er seine Rede. Nach germanischer Vorstellung darf der Vater die Schmähung nicht einfach hinnehmen; er muss die Herausforderung zum Kampf annehmen, wenn er nicht als Feigling gelten will. Denn die Ehre des Mannes gilt mehr als sein Leben. So kommt es zum Zweikampf der beiden zwischen den Heeren. Hildebrand klagt über sein Schicksal: 2 4 6 welaga nu, waltant got (quad hiltibrant), wewurt skihit. ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante, dar man mih eo scerita in folc sceotantero, so man mir at burc enigeru banun ni gifasta: nu scal mih suasat chind suertu hauwan, breton mih sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan. „O waltender Gott“, fuhr Hildebrand fort, „das Schicksal will seinen Lauf! Ich bin sechzig Sommer und Winter außer Landes gegangen. Da hat man mich immer in die Schar der Bogenschützen gestellt. Nachdem mich vor keiner Burg der Tod ereilt hat, soll es nun geschehn, daß mich mein eigener Sohn mit dem Schwert erschlägt, mich mit seiner Waffe zu Boden fällt – oder daß ich ihm den Tod bringe. Mitten in der Schilderung des Kampfes bricht nach 67 Versen die Aufzeichnung des Gedichts ab. Es ist jedoch gewiss, dass der Vater den Sohn tödlich verletzt. Vielleicht hat das Gedicht mit einer Klage, vielleicht sogar mit der Selbsttötung des Vaters geendet. Man vermutet, dass es sich beim Hilde- brandslied um eines der jüngsten Heldenlieder handelt, weil es formal auf einer sehr hohen Stufe steht, die eine lange Entwicklung voraussetzt. Die Situation wird knapp berichtet, dazwischen stehen direkte Reden, die den dramatischen Verlauf wiedergeben. Die Langzeilen weisen den germanischen Stabreim auf, das ist der Gleichklang von Konsonanten am Anfang sinntragender, betonter Wörter: 2 4 6 Ik gihorta ðat seggen, ðat sih urhettun ænon muotin, Hiltibrant enti Hadubrant untar herium tuem. sunufatarungo iro saro rihtun. garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro swert ana, helidos ubar hringa, do si to dero hiltiu ritun. Ich hörte (glaubwürdig) berichten, daß zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein) zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen. Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht, sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre Schwerter über die Eisenringe, die Männer, als sie zu diesem Kampf ritten. heldenlied Stabreim Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=