Killinger Literaturkunde, Schulbuch

59 50 55 60 65 70 Einem andern machten sie ein Sail um den Kopf und raitelten 1 es mit einem Bengel 2 zusam- men, daß ihm das Blut zu Mund, Nas und Ohren herauß sprang. In Summa, es hatte jeder seine eigne Invention 3 , die Bauren zu peinigen, und also jeder Baur seine sonderbare Marter. Allein mein Knän war meinem damahligen Bedüncken nach der glücklichste, weil er mit lachendem Mund bekannte, was andere mit Schmertzen und mit jämmerlicher Weheklage sagen musten, und solche Ehre widerfuhr ihm ohn Zweiffel darum, weil er der Haußva- ter war, dann sie satzten ihn zu einem Feur, banden ihn, daß er weder Hände noch Füsse regen konte, und rieben seine Fußsohlen mit angefeuchtetem Saltz, welches ihm unsere alte Geiß wieder ablecken und dadurch also kützeln muste, daß er vor Lachen hätte zerbersten mögen. Das kam so artlich und mir so anmuthig vor (weil ich meinen Knan niemals ein solches langwiriges Gelächter verführen gehöret und gesehen) daß ich Gesellschafft halber, oder weil ichs nicht besser verstund, von Hertzen mit lachen muste. In solchem Gelächter bekante er seine Schuldigkeit und öffnete den verborgenen Schatz, welcher von Gold, Perlen und Kleinodien viel reicher war, als man hinter den Bauren hätte suchen mögen. Von den gefangenen Weibern, Mägden und Töchtern weiß ich sonderlich nichts zu sagen, weil mich die Krieger nicht zusehen liessen, wie sie mit ihnen umgiengen. Das weiß ich noch wol, daß man theils hin und wieder in den Winckeln erbärmlich schreyen hörte, schätze wol, es sey meiner Meuder und unserm Ursele nit besser gegangen als den andern. Mitten in diesem Elend wante ich Braten, und war umb nichts bekümmert, weil ich noch nit recht verstunde, wie dieses alles gemeinet wäre, ich halff auch Nachmittag die Pferde träncken, durch wel- ches Mittel ich zu unsrer Magd im Stall kam, welche wunderwercklich zerstrobelt aussahe, ich kante sie nicht, sie aber sprach zu mir mit kräncklicher Stimme: O Bub, lauff weg, sonst werden dich die Reuter mit nehmen, guck, daß du davon kommst, du sihest wol, wie es so übel. Mehrers konte sie nicht sagen. 4. Untersuchen Sie die Besonderheiten dieser Darstellung Grimmelshausens: • Stellen Sie dar, auf welche Weise der Autor das Grauenhafte der Schilderung mildert. • Beschreiben Sie, wie Simplicius den Überfall in sein Weltbild einordnet (vgl. Zeile 6f., 17f.). • Illustrieren Sie, wie der Widersinn im Verhalten der Soldaten und damit das Sinnlos-Groteske des Krieges überhaupt dargestellt wird. (Prüfen Sie den Text von Zeile 21 an.) • Stellen Sie Vermutungen darüber an, was der Autor mit dieser Schilderung bezweckt haben mag. 5. Kommentieren Sie die über 300 Jahre alte Sprachform des Simplicissimus : • Erläutern Sie, was Ihnen daran auffällt. • Erklären Sie, welche Wörter, Wortformen und Fügungen ungewohnt sind. Grimmelshausen hat in seinem Simplicissimus den Lebens- und Leidensweg eines einfachen Men- schen in einer Welt dargestellt, die aus den Fugen geraten ist. Seine Romanfigur wird zu einem Typ der Zeit, der überleben will und sich treiben lässt, wohin ihn der Wind weht. Er passt sich den ver- schiedensten Lebenslagen an, wird vom einfältigen Bauernburschen zum Hofnarren, zum Abenteu- rer und Vaganten, zum Lebemann und Glücksritter und schließlich, nach einer schweren Krankheit, zum Einsiedler und Weisen. Dementsprechend bietet Grimmelshausen eine Fülle von Welt auf: das einfache, aber friedliche Leben auf dem Bauernhof, die Residenz des Fürsten, das Kriegslager, das elegante Paris und so- Lebensweg eines Einfältigen zum Weisen 1 raitelten: drehten 2 Bengel: Prügel, Stock 3 Invention: Erfindung, Idee m7b8q2 DAS BAROCK | 17. JAHRHUNDERT Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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