Killinger Literaturkunde, Schulbuch

56 Der bedeutendste Barockroman stammt von dem Spanier Miguel de Cervantes (1547 – 1616) und erschien Anfang des 17. Jahrhunderts. Cervantes möchte die beliebten Ritterromane seiner Zeit durch eine Parodie der Lächerlichkeit preisgeben. Seine phantastische Romanfigur, Don Quijote , der eine ganze Bibliothek solcher Romane verschlungen hat, lebt in der alten Ritterwelt. Er legt eine rostzerfressene alte Rüstung an, wählt ein Bauernmädchen zur verehrten Dame seines Herzens (Dulcinea) und zieht auf seinem dürren Gaul Rosinante aus, um als Beschützer der Armen, Witwen und Waisen alles Unrecht aus der Welt zu schaf- fen und das goldene Heldenzeitalter zu erneuern. Von einem Dorfwirt lässt er sich unterwegs zum Ritter schlagen. Er wählt Sancho Pansa 1 , einen pfiffigen Bauern, zu seinem Schildknappen, der ihm auf einem Esel getreulich folgt, weil er sich reiche Beute verspricht. Beide, der große, hagere Ritter mit dem traurigen Gesicht und der kleine rundliche Bauer, ziehen durch die Mancha 2 ihrem ersten Abenteuer entgegen: Don Quijote erscheinen die sausenden Windmühlen als Riesen, die er vernichten will. Keine noch so blutige Erfahrung der Wirklichkeit bringt ihn von seinen Ideen ab. Für ihn sind die Ideen das Wirkliche, der Augenschein Trug und Blendwerk. So werden die beiden Zentralfiguren zu Verkörperungen zweier entgegengesetzter Typen: der Idealist, der die Welt nach seinen Vorstellungen verändern will, aber die ärgsten Schläge einstecken muss, und der Realist, der die Welt nüchtern sieht und auf seinen Vorteil bedacht ist. Der bedeutendste deutsche volkstümliche Roman des Barock ist Der abenteuerliche Simplicissimus von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen 3 (1622 – 1676). Simplicius Simplicissimus, der Sohn eines kleinen Bauern im Spessart, wächst abseits der großen Welt auf. Eines Tages trägt ihm sein Vater auf, die Schafe zu hüten und dabei fleißig auf seiner Sackpfeife (dem Dudelsack) zu spielen, damit er den Wolf vertreibe. Der Bub hat jedoch keine rechte Vorstellung von Wölfen. Er bläst auf sei- nem Instrument und singt ein Lied über den Bauernstand. 5 10 Simplicius hütet die Schafe Biß hieher, und nicht weiter kam ich mit meinem lieblich-thönenden Gesang, dann ich ward gleichsam in einem Augenblick von einem Troup Courassirer 4 samt meiner Herde Schafen umgeben, welche im großen Wald verirret gewesen und durch meine Music und Hirten- Geschrey wieder waren zurecht gebracht worden. Hoho, gedachte ich, diß seynd die rechten Kautzen! diß seynd die vierbeinigte Schelmen und Diebe, darvon dir dein Knän 5 sagte; dann ich sahe anfänglich Roß und Mann (wie hiebevor die Americaner die Spanische Cavallerie 6 ) vor einer einzige Creatur an, und vermeynete nicht anders, als es müsten Wölffe seyn, wolte derowegen diesen schröcklichen Centauris 5 den Hundssprung weisen 8 und sie wieder abschaffen. Ich hatte aber zu solchem Ende meine Sackpfeiffe kaum aufgeblasen, da erdappte mich einer aus ihnen beym Flügel und schleuderte mich so ungestüm auf ein läer Bauernpferd, so sie neben andern mehr Der Ritter von der traurigen Gestalt 1 Sancho Pansa: sprich: ’santscho ’pansa 2 Mancha: sprich: ’mantscha 3 Grimmelshausen hat wie bei den meisten seiner Werke ein Pseudonym (einen Decknamen) verwendet, hier: German Schleifheim von Sulsfort. Es ist dies eine andere Anordnung der Buchstaben seines Namens „Christoffl von Grimmelshausen“ (Anagramm). 4 Courassirer: Küraß = Brustharnisch; Kürassier = schwerer Reiter 5 Knän: im Spessart Bezeichnung für Vater 6 Cavallerie: Reiterei 7 Centauris: Kentauren sind mythologische Wesen mit Menschenkopf und Pferdeleib. 8 den Hundssprung weisen: fortjagen Pablo Picasso: Don Quijote , der Ritter von der traurigen Gestalt, und sein Schild- knappe Sancho Pansa, im Hintergrund die Windmühlen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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