Killinger Literaturkunde, Schulbuch

50 Das erfolgreichste Werk, Das Narrenschiff (1494), stammt von dem Professor der Rechtswissen- schaften Sebastian Brant, einem wortgewaltigen Pessimisten. Er lädt alle Narren auf ein Schiff, das nach „Narragonien“ fährt. Auf diesem Schiff findet man zum Beispiel die Modenarren: 2 4 6 8 10 12 14 16 Sebastian Brant Von neuen Moden Wer neue Moden trägt durchs Land, gibt Ärgernis, verfällt in Schand und hält den Narren bei der Hand. Was einstens war ein schändlich Ding, das achtet jetzt man ganz gering. Trug man in Ehren einst den Bart, so liebt der Mann jetzt Weiberart. Man schmiert sich jetzt mit Affenschmalz und legt um den entblößten Hals viel Ring und große Ketten an, als wollt man vor Sankt Lienhard 1 stahn. Mit Schwefel und Harz pufft man das Haar und schlägt darein dann Eierklar, dass es im Schüsselkorb 2 werd kraus. Der hängt den Kopf zum Fenster raus, der bleicht es dann an Sonn und Feuer, darunter sind die Läus nit teuer. 18 20 22 24 26 28 30 32 Die können es jetzt gut aushalten, weil alle Kleider sind voll Falten: Rock, Mäntel, Brusttuch, Mieder, Hemder, Pantoffel, Stiefel, Hosen, Gwänder, Pelzkappen, Mäntel mit Verbrämung nach Judenart ohn all Beschämung. 3 Der neuen Mod die alte weicht; das zeigt, wie unser Gmüt ist leicht und wandelbar in alle Schand. Viel Modesucht geht durch das Land. So schändlich kurz sind jetzt die Röck, kaum dass den Nabel man bedeck. Pfui Schand der deutschen Nation, dass man der guten Sitt zum Hohn zeigt, was Natur verbergen möcht, drum steht es leider jetzt so schlecht! 7. Besprechen Sie oben stehenden Text: • Beschreiben Sie die Modeerscheinungen, die Brant in dem Text darstellt. • Kommentieren Sie, welche Folgen für Brant die neue Mode hat. • Stellen Sie dar, in welche sprachliche Form er seine Strafpredigten gekleidet hat. • Argumentieren Sie, inwiefern dieser Text heute noch seine Bedeutung hat. Eine bedeutende lyrische Form der Epoche war neben dem Volkslied und dem Kirchenlied der Meis- tersang. Die Meistersinger fühlten sich als Erben der höfischen Poesie. Fahrende Handwerker und sesshafte Meister schrieben dreistrophige Lieder (Meistersangstrophe), die formal dem Minnesang nachge- bildet waren und zu denen eine (selbst erfundene oder übernommene) Melodie gehörte. Die Stoffe entnahm man meist der Bibel. Die Lieder wurden im Rahmen der „Singschulen“ in Kirchen vorgetra- gen. Ein „Merker“ gab genau acht, ob wohl auch alle Regeln und Gesetze, die sich die Meistersinger selbst auferlegt hatten („Tabulatur“), eingehalten waren. Richard Wagner hat die Prozedur des Meistersingens in seiner Oper Die Meistersinger von Nürnberg (1868) nachgebildet. 1 Sankt Lienhard: St. Leonhard, Schutzpatron der Gefangenen, dem sie nach ihrer Befreiung ihre Ketten darbringen 2 Schüsselkorb: flacher Korb, den man aufgesetzte, um Locken zu pressen 3 antisemitische Anspielung auf den traditionellen jüdischen Kaftan Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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