Killinger Literaturkunde, Schulbuch

412 1 5 Die Säulenarkaden der Kiefernstämme jenseits des Dammes entzündeten sich gleichsam von innen heraus und glühten wie Eisen. Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich; aber sie erloschen zuerst. Und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußersten Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. In Ilse Aichingers Kurzgeschichte Das Plakat (vgl. Seite 355ff.) heißt es im ersten Absatz: Der Himmel [...] war blau und gewalttätig, im gleichen Maß bereit zu schützen und einzu- stürzen [...] Die Ferne hatte die Nähe verschlungen. Die Gestaltung des Raumes ist von der Autorin oder vom Autor, aber auch von der Epoche abhängig. Einen realen Raum findet man z. B. bei Adalbert Stifter (vgl. Seite 197ff.) und bei den Naturalisten (Gerhart Hauptmann, Émile Zola). Er ist der Wirklichkeit nachgebildet; oft sind sogar Örtlichkeiten identifizierbar oder genannt (Adalbert Stifter, Böhmerwald; Peter Rosegger, Waldheimat; Heimito von Doderer, Strudlhofstiege; Paula Grogger, Grimmingtor; Ingeborg Bachmann, Manhattan). Der ideale Raum ist nach den Vorstellungen der Autorin oder des Autors und der Zeit gebildet: Die Romantiker/innen gestalteten eine hügelige Landschaft mit Wäldern und Bächen, an denen Mühlen klappern; Wolken ziehen eilig, die Nächte sind vom Mond erhellt. Das Schloss liegt in einem verwil- derten Park mit Marmorstatuen und Brunnen. Auch das Märchen kennt nur den idealen Raum mit typischen Kulissen, wie z. B. dem finsteren Wald, dem gewaltigen Schloss und der Hütte der Alten. In einem irrealen Raum spielen die Werke der Expressionisten und Surrealisten und der Dramatiker des Absurden wie z. B. die Werke Kafkas ( Vor dem Gesetz , Auf der Galerie , Eine kaiserliche Bot- schaft , vgl. Seite 266, In der Strafkolonie ). Der Raum und die Gegenstände darin haben oft den Wert von Symbolen und Chiffren. Die Bedeutung der Wörter (z. B. der Farbadjektive) stimmt nicht mit ihrer Bedeutung im üblichen Sprachgebrauch überein. Epische Großformen stellen meist ein Zeitbild dar, sie greifen über Zeiten und Räume aus. Das ein- fachste Mittel, viel Raum einzubeziehen, ist häufiger Ortswechsel. Und so schicken denn die Epiker/ innen ihre Figuren gern auf Wanderschaft: Odysseus muss in so exotische Gegenden wie die Ur- landschaft der Kyklopen und die Insel der Lästrygonen, und schließlich bleibt ihm auch die Unterwelt nicht erspart. Je weiter entfernt und je exotischer das Land, umso eher kann die Erzählerin oder der Erzähler mit der Neugier der Leserschaft rechnen. Milieu Die Figuren können in einem geschlossenen Milieu oder in einer kontrastiven Umwelt leben. Die klassischen Dramen, die epischen Werke des Realismus und die Romane von Thomas Mann z. B. spielen in einem geschlossenen Milieu. In den bürgerlichen Trauerspielen des Sturm und Drang ( Ka- bale und Liebe , vgl. Seite 114ff.), im Naturalismus (Hauptmann, Die Weber , Rose Bernd u. a.), im Woyzeck (vgl. Seite 205f.) von Büchner stoßen die Gegensätze von Ständen, Klassen und Schichten aufeinander, woraus sich dramatische Konflikte ergeben. Till Eulenspiegel und die Schelmenromane älteren Typs erhalten ihre Spannkraft und ihren Reiz aus dem Zusammenprall der Habenichtse mit den Etablierten. Möglichkeiten der Raumgestaltung Geschlossene und gegensätzliche Umwelt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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