Killinger Literaturkunde, Schulbuch

4 Zur Zeit der Völkerwanderung (etwa 375 – 568) ziehen die germanischen Stämme der Franken, Alemannen, Baiern und Sachsen vom Osten in ihre endgültigen Siedlungsräume ein. Sie kommen mit der spätrömischen Kultur und mit dem Christentum in Berührung. Diese Begegnung bedeutet einen gewaltigen Einschnitt sowohl in der Entwicklung der germanischen Völker als auch der spät- römischen Kultur und eine Veränderung aller Lebensformen. Die Germanen der Völkerwanderungszeit hatten bereits ihre Dichtung: Heldenlieder (z. B. über Armin), Kriegslieder und Ritualverse, die mündlich weitergegeben wurden; davon ist nur wenig erhalten geblieben. Die Niederschrift alter Dichtung (also die Literatur im eigentlichen Sinn) beginnt erst im 8. Jahrhundert in den Klöstern. 744 gründete Bonifatius, der Apostel der Deutschen, die Benediktinerabtei Fulda. Hier wurde den jungen Mönchen die lateinische Sprache anhand der Bibel und theologischer Schriften vermittelt, hier lernten die Mönche lesen und schreiben und stellten handgeschriebene Bücher her. Die Klöster wurden zu Zentren des geistigen Lebens, die Mönche zu Vermittlern und Trägern der spätrömisch-frühchristlichen Kultur. Durch die Schreibtätigkeit einiger Mönche sind uns Reste heidnisch-germanischer Dichtung erhal- ten, so z. B. die beiden Merseburger Zaubersprüche , die im 10. Jahrhundert in ein Messbuch in Fulda eingetragen wurden. Zaubersprüche finden wir bei allen Kulturvölkern. Sie enthalten einen Wunsch, der durch die An- rufung höherer Mächte mit einer magischen Beschwörungsformel erfüllt werden soll. In dem einen der beiden Merseburger Zaubersprüche wird zunächst eine Szene aus der Götterwelt beschworen: 2 Vol ende Wodan vuorun zi holza do wart demo Balderes volon sin vuo  birenkit. Vol und Wodan ritten in den Wald Da ward dem Fohlen Balders sein Fuß verrenkt Daraufhin beschwören zuerst zwei weibliche Gottheiten, dann Wodan selbst die Verletzung: 2 4 sose benrenki, sose bluotrenki sose lidirenki: ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin! Wie die Beinrenke 1 , so die Blutrenke so die Gliedrenke: Bein zu Bein, Blut zu Blut Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien! Klöster als Kulturträger Älteste deutsche texte Frühmittelalter 8. BIS 10. JAHRHUNDERT 1 Beinrenke: Verletzung des Beines Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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