Killinger Literaturkunde, Schulbuch

398 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Für ein Kind kann das auch nicht gut sein, immer das Hin und Her, und ich glaube, die Tochter vom Kressdorf hat die Autobahn schon für ihr Spielzimmer gehalten. Aber ich muss zugeben, das ist einmal ein nettes Kind gewesen. Nicht wie heute die Kinder allgemein, also kein Bitte, kein Danke, kein Grüßgott, kein Aufwiedersehen. Andererseits ist es ein Glück, dass sie sich so benehmen, weil so kann man die Kinder wenigstens noch von den Erwach- senen unterscheiden. Früher war es mehr die Größe, da hat man gesagt, ein Kleiner ist ein Kind und ein Großer ist ein Großer. Aber heute wachsen die Kinder ja so schnell, dass du von der Größe her keinen Anhaltspunkt mehr hast, ist es jetzt der Primar, der da so sport- lich aus der Säuglingsstation herausspaziert, oder ist es der Neugeborene selber. Und da ist es eben umgekehrt wie früher, und Faustregel: Der weniger Arrogante ist der Primar. [...] Überhaupt war der Herr Simon sehr zufrieden mit seinem neuen Leben, weil nicht immer Chauffeur gewesen, sprich verschiedene Berufe ausprobiert, aber über fünfzig hat er werden müssen, damit er seine Sache ˆndet. Wo andere schon an Pension und Rente denken, hat der Herr Simon erst ein richtig gutes Berufsleben angefangen. Einmal die fünf Stunden von Wien nach München, dann wieder die fünf Stunden von München nach Wien, manchmal auch mit der Mutter, selten einmal mit dem Vater, aber immer mit dem freundlichen Kind, das ihn so gut verstanden hat. Das hat ihm so getaugt, das kann sich ein anderer, der nicht so zum Chauffeur geboren ist, gar nicht vorstellen. Und du darfst eines nicht vergessen. Schlecht gezahlt hat der Kressdorf nicht. Das schlechte Gewissen dem Kind gegenüber hat sich so ausgewirkt, dass sie den Chauffeur übertrieben gut gezahlt haben. Oder war es auch nicht so sehr das schlechte Gewissen, sondern einfach die Sorge um das Kind. Ein richti- ger AuŸauf war zwar selten vor der Abtreibungsklinik, aber die stille Bedrohung von den Betschwestern fast noch beängstigender, weil seufzende Aggression immer am schlimmsten, und altbekannte Tatsache: Hinter jedem Massenmörder steht eine Massenseufzerin. Die Frau Doktor war wahnsinnig froh über den verlässlichen Fahrer. Weil der hat seinen Job ernst genommen, frage nicht. Wenn da nur das geringste Geräusch irgendwo war, ein Klingeln von der Lüftung her, oder ein Scheibenwischer hat einen minimalen Streifen gemacht, oder wenn da eine Fußmatte nicht gerade gelegen ist, das wäre ihm unmöglich gewesen, das hat er dem Kind nicht zugemutet. Und da hat er nicht gesagt, die Helena sieht von ihrem Kindersitz aus meine Fußmatte sowieso nicht, sondern aus Prinzip immer alles picobello. Jetzt hat der Chauffeur sich wahnsinnig geärgert, dass er gestern auf das Tanken vergessen hat. Weil das ist ihm noch nie passiert, dass er schon mit der Helena aus Wien hinausfährt, und nach fünf Minuten schaut er auf die Tankuhr, und ob du es glaubst oder nicht: Er hat am Abend nicht getankt, sprich nur mehr Benzin für hundertneunzig Kilometer! Aber das ist vielleicht auch an den Tabletten gelegen. Weil nicht nur positive Wirkung. Eine gewisse Zerstreutheit. Möglich wäre es, dass es von den Tabletten kommt, hat der Chauf- feur überlegt, während er Ausschau nach der nächsten Tankstelle gehalten hat. Er hat über- haupt viel über die Wirkung der Tabletten nachgedacht. Einerseits hat er nicht mehr so gut geschlafen, andererseits ist es ihm bessergegangen, seit sie ihm die Tabletten verschrieben haben, wo man sagt, da ist der Tag ein bisschen sonniger für dich. Du musst wissen, vorher war nicht mehr viel los mit ihm, besonders seit ihn seine letzte Freundin verlassen hat. Obwohl ich da auch die Frau verteidigen möchte, und ich glaube eher, sie hat ihn verlassen, weil es schon nicht mehr auszuhalten war mit ihm. Und seine Freundin hat ihm ja sogar noch den Arzt verschafft, weil der Herr Simon ein Leben lang Arztmuffel. [...] Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verl gs öbv

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