Killinger Literaturkunde, Schulbuch

397 Trivialliteratur ist oft eng mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden. Ausgangspunkt ist nicht die Idee einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers und ihre künstlerische Gestaltung, sondern die Überle- gung eines Verlages, wie Geld zu machen sei. Die Verbreitung der Heftchenromane übernehmen vor allem Kioske und Trafiken. Jährlich werden etwa 120 Millionen Heftchen gedruckt, Liebesromane, Krimis, Western, Abenteuerromane, Comics. Beim Liebesroman werden unterschieden: Frauen-, Berg- und Heimatromane, Fürsten- und Arztromane, erotische Romane. Zum Abenteuerroman ge- hören auch Kriegsromane und Sciencefiction. Manche Verlage sind ausschließlich auf die Produktion von Heftchenliteratur eingestellt. Die Re- daktionen schreiben den Autorinnen und Autoren das Thema, das Gerüst der Handlung und die Konstellation der Figuren vor. Es gibt einige Schablonen für Aufbau, Charakterisierung der Figuren und Konfliktsituationen. Serien werden von einem Arbeitsteam verfasst. Literatur wird zu einer mas- senhaft produzierten Ware, die sich nach den Erwartungen der Konsumenten richtet. Viele Leser/innen wollen sich ohne große geistige Anstrengung unterhalten, Langeweile vertreiben oder sie mit Spannung und Traumfantasien füllen. Sie möchten – neben einer aktionsreichen Hand- lung ohne lange Betrachtungen und Schilderungen – erleben, wie dem Guten zum Sieg über das Böse und Schlechte verholfen und so eine gerechte Ordnung hergestellt wird, die in der Wirklichkeit offensichtlich nicht realisierbar ist. Der Unterhaltungsroman löst die Undurchschaubarkeit der Ver- hältnisse in der Welt in einfache Bilder auf und bietet eine klar überschaubare Wertordnung. Seit Heinrich von Kleist ist an Unterhaltungs- und Trivialliteratur viel Kritik geübt worden. Man hat sie als sprachlich minderwertig abgeurteilt: als zu primitiv im Stil oder zu überladen. Man hat ihre Inhalte als unwirkliche Traumwelt abgetan, die ihre Leser/innen der Realität des Lebens entfremdet. Man hat sie als Betrug an der ungebildeten Masse bezeichnet, die glaubt, sich die bürgerliche Bildung anzueignen, während sie nur Kitsch und Pseudoliteratur aufnimmt. Man hat die Unterhaltungs- und Trivialliteratur ideologiekritisch untersucht und behauptet, sie stelle den Versuch des bürgerlich-ka- pitalistischen Wirtschaftssystems dar, in den Massen ein falsches Bewusstsein zu erzeugen und (wie eine Drogensucht) zu nähren, ein Bewusstsein, das die Menschen von der Kritik an den sozialen und politischen Missständen abhält. Geblieben ist trotz der Angriffe mit den unterschiedlichsten Waffen das ungebrochene, unbereute Vergnügen am trivialen Liebesroman und am Krimi. Der Salzburger Autor Wolf Haas (geb. 1960) wurde bekannt durch seine „Brenner“-Kriminalroma- ne, die zwar auch unterhalten wollen, aber nicht den Zwängen der industriell gefertigten Trivialli- teratur unterworfen sind. Der typische Stil der „Brenner“-Romane ergibt sich aus dem Einsatz des Ich-Erzählers, der die Geschichten in österreichischem Sprachduktus erzählt. Dadurch erscheint er der Leserin oder dem Leser als ebenbürtig und besonders bodenständig. Interessanterweise wirkt er beim Erzählen oft überrascht oder verblüfft, obwohl er gegenüber der Leserin bzw. dem Leser einen Informationsvorsprung haben müsste. 1 5 Wolf Haas Der Brenner und der liebe Gott (2011) Schau dir zum Beispiel den Chauffeur vom Kressdorf an. Also von dem bekannten Bau- unternehmer, du kennst sicher die Lastwägen mit der grünen Aufschrift KREBA, sprich Kressdorf Bau. Die haben viel in München gebaut, zum Beispiel das das das. Und jetzt bei uns das Riesenland. Aber mir geht es nicht um den Kressdorf. Sondern um seinen Chauffeur. Weil so ein Kressdorf, der hat natürlich seinen Chauffeur, klare Sache, der kann nicht alles selber fahren. Vor allem, seit er wieder verheiratet ist, die junge Gattin in Wien, der KREBA- Firmensitz in München, dann ein zweijähriges Kind, treffen sie sich am einfachsten in der Mitte, sprich Kitzbühel. Weil in Kitzbühel natürlich die Geschäfte, die Kontakte, ja was glaubst du. Literatur als Ware Bedürfnisse und Konsumverhalten von Leserinnen und Lesern Der Brenner 67jp34 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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