Killinger Literaturkunde, Schulbuch

393 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand die Unterhaltungsliteratur in voller Blüte. Es gab vor allem sentimentale Liebesromane und Abenteuerromane. Solche Bücher hatten schon damals eine weit größere Leserschaft als die so genannte hohe Literatur. Die Räubergeschichte Rinaldo Rinaldini beispielsweise verhalf Christian Vulpius zu einer Popularität, die jene seines Schwagers Goethe übertraf. Der Durchbruch zur Massenunterhaltung gelang der Literatur jedoch erst nach 1830 in Form des Zeitungsromans. Pariser Verleger gestalteten damals das Pressewesen grundlegend um: Sie senkten den Preis für ein Zeitungsabonnement (es gab noch keinen täglichen Stückverkauf) um die Hälfte und nahmen zum finanziellen Ausgleich bezahlte Anzeigen und Werbeinserate auf. Vor allem aber boten sie als „Feuilleton“ einen Roman in Fortsetzungen, der bald die politischen Nachrichten von der Titelseite verdrängte. Die neue Form des Zeitungsromans (roman-feuilleton) vervielfachte das Leserpublikum, sodass die Verleger hohe Gewinne erzielten und die erfolgreichen Autoren sich im- mer teurer verkauften; so z. B. Alexandre Dumas (1802 – 1870) mit seinen Erfolgsromanen Der Graf von Monte Christo (1845/46) und Die drei Musketiere (1849) und Eugène Sue (1804 – 1857), dessen Geheimnisse von Paris (1851) nicht nur die Damen der guten Gesellschaft, sondern auch die Näherinnen und Lehrlinge faszinierten. Der Produktion eines Kapitels folgte sofort die Veröf- fentlichung, sodass die Autoren oft selbst nicht wussten, wie die Handlung weiterlaufen und enden würde. Es entwickelte sich für den Zeitungsroman eine neue Bauform: Der tägliche Beitrag musste so gestaltet sein, dass er einen in sich geschlossenen Teil bildete, der den dafür vorgesehenen Raum genau ausfüllte und durch immer neue Gefährdungen der Hauptfigur die Leser/innen in Spannung hielt. Der zeitliche Druck und die große Nachfrage zwangen die Autoren, ihre Romane zu stan- dardisieren, d. h. Handlungsabläufe und Figurenkonstellationen leicht variiert wiederzuverwenden. Schließlich konnte ein Autor gar nicht mehr so viel schreiben, wie geschäftstüchtige Verleger ihm abnötigten. Es begann eine Art industrieller Literaturproduktion, deren Merkmale die Normierung, die Serienanfertigung und die Arbeitsteilung waren. Der ungeheure Erfolg des Zeitungsromans und damit der Zeitungen konnte nur erzielt werden, weil man breite Bevölkerungsschichten als Leser/innen gewann. Die Voraussetzung dafür war, dass nun auch die Vorstadtbewohner, Handwerker, Kutscher, Diener, Näherinnen und Köchinnen, lesen konnten. Was sie so faszinierte, waren die einander jagenden Abenteuer und Intrigen im Dschungel der Pariser Unterwelt, die Verbrechen und ihre blutige Sühnung, wobei schließlich das Gute über das Böse siegte. Der Zeitungsroman des 19. Jahrhunderts weist Merkmale auf, die dem Unterhaltungsroman bis heute geblieben sind: Er wendet sich an ein breites Publikum, das literarisch nicht vorgebildet ist. Denn nicht die literarische Qualität ist ausschlaggebend, sondern der Unterhaltungswert. Die klare Einteilung der Menschen in Schurken und Edle erleichtert die Parteinahme und gibt Gelegenheit, die eigenen Aggressionen und Wünsche mit zum Sieg führen zu lassen. Die Entwicklung verlief im deutschen Sprachraum ähnlich. Die Zeitschrift Die Gartenlaube (ab 1853) etwa brachte in Fortsetzungen Romane von Eugenie Marlitt (1825 – 1887) und später von Hedwig Courths-Mahler (1867 – 1950). Eine Eigenheit der älteren deutschen Unterhaltungsromane, die mehr für Leserinnen der gehobenen Schichten geschrieben wurden, ist die Übersättigung mit sen- timentalen Gefühlen. Fortsetzungsroman 6r45dj DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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