Killinger Literaturkunde, Schulbuch

387 15 20 25 30 er frisch aus der Schrottpresse, schön viereckig und zugleich doch ein wenig verzogen. Au- ßerdem hat sie seit sechs Tagen ein Piercing im linken NasenŸügel, das ich seit sechs Tagen konsequent ignoriere. Da sie rechts von mir sitzt und ich den Goldknubbel im Gesichtsfeld habe, sobald ich mich ein paar Grad hinüberdrehe, erfordert das einige Mühe, zugegeben. In letzter Zeit ist mir überhaupt nicht danach, NasenŸügelpiercings zu loben. Es läutet und Petrau kommt nicht. Es ist jede Woche dasselbe, und es ärgert mich jede Wo- che gleich. Herumstehende Filmmülltonnen ärgern mich und Musikprofessoren, die blind jeden Ton erkennen, den du am Klavier anschlägst, aber die Schulglocke nicht hören, ärgern mich auch. Dann jeiert er wieder dahin, wie belastend es nicht sein kann, das absolute Gehör zu besitzen und durch lächerliche Frequenzunterschiede geradezu körperlich gequält zu werden. „Wir singen ihm was vor“, sagt Gert manchmal, „ein Drittel singt ein C, ein Drittel ein Cis und der Rest den Ton dazwischen.“ Wir haben es noch nie wirklich auspro- biert, obwohl ich die Idee im Prinzip für realisierungswürdig halte. Wobei das die erste und letzte und einzige Idee ist, die ich von diesem Herrn jemals für realisierungswürdig halten werde. Und außerdem ist die Genauigkeit mit C und Cis und dem Ton dazwischen völlig überŸüssig; wir brauchen nur irgendwelche Töne zu singen, ad libitum, oder wie das heißt, und Petrau wird leiden. Ich beuge mich schräg nach links hinten zu Simone. „Wie stirbt ein Postamtsleiter?“, frage ich. Sie schweigt und denkt nach. Simone ist ein besonnener Mensch, der immer erst nachdenkt, bevor er irgendwas antwortet. „Postamtsleiter“, fragt sie dann, „heißt das nicht Postmeister?“ 75. Kommentieren Sie, wie sich dieses Mädchen fühlt und wie es der Schule gegenübersteht. 76. Analysieren Sie, welche dieser Gedanken und Empfindungen typisch für Jugendliche dieser Altersgruppe sind. 77. Stellen Sie die Erzählweise der beiden Abschnitte gegenüber: • Kommentieren Sie, in welcher Weise die unterschiedliche Erzählposition die Wirkung der Texte beeinflusst. • Stellen Sie Vermutungen an, aus welchen Gründen sich der Autor dazu entschlossen haben könnte, diese Technik in diesem Roman zu verwenden. Die in Salzburg geborene Kathrin Röggla (geb. 1971) schildert in ihrem Text wir schlafen nicht (2004) die Orientierungslosigkeit einer Generation, die sich in der Arbeitswelt gefangen sieht und die nicht aus den auferlegten Zwängen auszubrechen in der Lage ist. Die Tatsache, dass die Perso- nen ihres Textes nicht mehr schlafen, steht stellvertretend für wichtige menschliche Bedürfnisse, die zugunsten von Karriere und Erfolg in den Hintergrund gedrängt werden, denen alles unterzuordnen ist. Die Arbeitswelt wird zur Bedrohung derer, die vermeintlich die Welt gestalten, dabei aber ihre Identität im Umgang mit der Droge Arbeit verloren haben. In diesen Zitaten aus Interviews mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen an einer Messe dreht sich alles um die Wirkung nach außen und gleichzeitig um die Sprachlosigkeit in einer Zeit der omniprä- senten Kommunikation. In der Arbeitswelt gefangen 4h9wm4 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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