Killinger Literaturkunde, Schulbuch

386 Seine wichtigsten Romane sind der Adoleszenzroman Wildwasser (1997), Die Süße des Lebens (2006) und Das Matratzenhaus (2010). In seinem Roman Über Raben (2002) werden zwei Handlungen parallel beschrieben. Einerseits steigt ein Lehrer in die verschneiten Berge auf, um vor seinem Leben zu fliehen, andererseits beschäftigt er sich immer wieder mit den Gedanken an eine seiner Schülerinnen. Passagen, in denen der Auf- stieg des Lehrers und seine Ängste und Gedanken beschrieben werden, und Abschnitte, in denen das Mädchen seinen Schulalltag erlebt, sind ineinander verwoben. Das Ende der Geschichte bleibt offen. 1 5 10 15 Über Raben Manchmal fragte er sich, ob in den allerletzten Augenblicken sein Leben tatsächlich vor ihm ablaufen würde wie ein innerer Film. Wenn er an zwei Fingern über einem Abgrund hing, fragte er sich das, oder wenn ihm im Stürzen klar wurde, dass der Haken, der ihn hal- ten sollte, von einer fremden Person geschlagen worden war. Wenn er einen dieser glaskla- ren Kindersätze las: «Das Leben war wieder einmal schwer» zum Beispiel oder: «Er lachte, bis ihm das Herz wehtat», fragte er sich das, und er tat es bei weitem öfter als früher, seit- dem Max nicht mehr da war. Widmann, der Biologe, sagte, tot sei tot, das hänge mit einem Kollaps aller Nervenzellen zusammen und ein Kino im Kopf sei ein aufgelegter Schwach- sinn. Inzwischen gehörte Widmann längst zu jenen, die hinter ihm her waren. Widmanns Nervenzellen wussten unter Garantie, dass sie zu kollabieren hatten, wenn es so weit war. Für einen Moment überlegte er, das Auto zu verstecken, hielt dann aber doch auf dem üblichen Parkplatz, einer seichten, vielleicht zwanzig Meter langen Bucht im Hang, an. Kein anderes Fahrzeug stand da. Er stieg aus und sah sich um. Über den Bäumen am Fuß der Felswände lag eine Nebelbank. Sie hatte die Form eines Ÿachen Tellers. Der Schnee war an der OberŸäche gefroren und brach bei jedem seiner Schritte mit einem leisen Krachen ein. Das Außenthermometer des Volvo hatte zuletzt minus elf Grad angezeigt. Oben würde es wärmer sein. Bei Schönwetter herrschte in diesem Abschnitt des Tales immer eine Inversi- onslage. 74. Beschreiben Sie, in welcher Gemütslage sich der Lehrer in dieser Passage befindet. 1 5 10 Es gibt viele Rätsel auf dieser Welt. Zum Beispiel wie ich es schaffe, täglich um drei Minu- ten vor acht da zu sein. Vielleicht hat es mit einer genetisch ˆxierten inneren Uhr zu tun. Wenn man Leute wochenlang in ˆnstere Räume sperrt, stellt sich ihre innere Uhr angeblich auf eine Tageslänge von 25 Stunden ein. Ich halte das für einen Blödsinn, aber wer kann das schon überprüfen, wo doch heute nicht einmal mehr in Gefängnissen Leute in dunkle Räume gesperrt werden. Weibl steht an der Tür und glotzt. Das hat auch mit genetischer Fixierung zu tun. Er hat eine Hornhautverkrümmung und sieht mit seinen dicken Brillen- gläsern dauerglotzig aus. Im Vorbeigehen schiebe ich mein Gesicht bis auf zehn Zentimeter an seine Brillengläser heran. „Du Eierdieb“, sage ich, „du ziehst mich runter.“ Er zeigt mir den Mittelˆnger. „Er hat den richtigen gefunden“, sage ich zu Susanne. „Wer hat was ge- funden?“, fragt sie. „Weibl hat den richtigen Finger gefunden“, sage ich. „Wofür“, fragt sie, „wofür hat er den richtigen Finger gefunden?“ – „Vergiss es“, sage ich. Susanne trägt eine beige Bluse mit zu großem Kragen und Jeans, die ihren Hintern aussehen lassen, als käme Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=