Killinger Literaturkunde, Schulbuch

385 30 35 40 45 der seinen Dienst in Frauenkirchen versehe. Er habe große Lust, ihn anzurufen oder gar zu besuchen. Evtl. sei so an Informationen zu kommen, die nicht in der Zeitung oder im Fernsehen veröffentlicht würden. Ich erinnerte ihn daran, eine solche Vorgehensweise hätte unweigerlich Proteste beim weiblichen Teil unserer Gruppe zur Folge. Heinrich wiegte den Kopf. Man müsse den Frauen einen Grund geben, sich ebenfalls für den Fortgang des Falles zu interessieren. Auf meine Frage, welcher Natur dieser Grund sein könne, antwor- tete er, Angst. Gleich grinste er, dies sei zwar verwerŸich, doch wir könnten wenigstens eine gewisse Unruhe säen. Etwa indem wir von Gerüchten berichteten, der Täter sei in der Nähe unterwegs. Ich solle mich nur des Theaters von vergangener Nacht entsinnen. Nein, fügte er hinzu, es sei wirklich nicht erforderlich, unsere Frauen in Furcht zu versetzen. Wenn wir geschickt agierten, könnten wir sie durch Mutmaßungen dazu bringen, uns zumindest nicht allzusehr in unserem Forschungsdrang einzuschränken. Wir wandten uns wieder dem Tele- text bzw. der Zeitung zu. In der Druckschrift wurde der Täter als Kamerateufel bezeichnet, der entmenscht u. bestialisch u. ein Verbrecher von einem anderen Stern sei. Jeder Kolum- nist u. jeder Kommentator beschäftigte sich mit der Tat. Sogar ein Foto der Opfermutter war abgedruckt. Aus dem Teletext erfuhren wir, daß das Foto als Skandal gewertet wurde. Der Fotograf hatte sich, als PŸeger verkleidet, in die psychiatrische Anstalt Am Feldhof eingeschlichen und die ans Bett gefesselte und innerlich mit Medikamenten ausgekleidete Mordkindermutter fotograˆert. Dies widerspricht unseren ethischen Prinzipien, sagten der Präsident des Presserates u. der Chef der Liberalen lt. Teletext. Nachdem Heinrich und ich einander interessante Passagen aus den Zeitungskolumnen vorgelesen hatten, begaben wir uns vors Haus. 71. Erläutern Sie, wie in diesem Textabschnitt folgende Akteurinnen und Akteure dargestellt werden: • Medien • Leser/innen • in Berichten vorkommende Personen 72. Diskutieren Sie den Umgang mit Sensationen in modernen Massenmedien. 73. Kommentieren Sie, welche Wirkung die Berichterstattung auf die Personen hat. Auf den Kinderpsychiater und Erzähler Paulus Hochgatterer (geb. 1961) üben menschliche Grenz- situationen einen besonderen Reiz aus, besonders im Umgang mit Aggressionen, die in der Realität vielfach „fürchterlicher als die Fiktion” sind. Traumatisierende Situationen, insbesondere von Ju- gendlichen, werden explizit dargestellt mit dem Ziel, Aggressionen konstruktiv zu verarbeiten. Er beschäftigt sich intensiv mit Kindheit und Jugend, einer Zeit, in der 1 5 ... wir lernen, die Welt in Begriffe fassen, in denen wir die Geschichten hören, die uns ein Leben lang nicht mehr verlassen, in denen wir schließlich erstmals die Möglichkeit er- greifen, all das, was uns Angst oder Begeisterung, Sehnsucht oder VerzweiŸung, Not oder Leidenschaft bedeutet, zu dem zu formen, was uns letztlich ausmacht, zu unserer eigenen Erzählung. Das eigentlich Wichtige sei, was die Leserin oder der Leser zwischen den Zeilen spüre. Anregungen findet der Autor vielfach in seiner beruflichen Tätigkeit: Die Auseinandersetzung mit seinen jugend- lichen Patienten und Patientinnen liefert Muster, die Hochgatterer in seinen Texten neu konfiguriert. Umgang mit Aggressionen r6968f DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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