Killinger Literaturkunde, Schulbuch

384 und der damit verborgenen Sensationslust andererseits getragen wird. Vordergründig erscheint der Text als Kritik an den Medien und ihrem Umgang mit Sensationen, jedoch wird sehr bald klar, dass die Hauptpersonen, zwei Paare, die an einem Osterwochenende das Geschehen um die Entdeckung eines grauenhaften Verbrechens verfolgen, ebenso dafür verantwortlich sind, wie mit furchtbaren Ereignissen umgegangen wird. 1 5 10 Interview mit Thomas Glavinic Mich hat die Konstellation fasziniert. Ich gehe generell davon aus, dass jeder Mensch ein Monster ist. Und dieses Monster ist in diesem Fall, in diesem Buch ja nicht der Kameramör- der – der ist zwar auch ein Monster, aber der ist ein besonderes Monster und als solches nicht so gefährlich – sondern das wahre Monster, das sind die anderen. Das sind die vier Leute, die vor dem Fernseher sitzen, und die Leute, die in den Dörfern toben, damit sie den Kameramörder in die Finger bekommen. Und das ist eben die Frage, inwieweit man sich da jetzt als Leser innerlich distanzieren kann. Also ich zweiŸe daran. Ich habe schon einige Reaktionen gehört von Leuten, die sich nach der Lektüre überlegt haben, ob sie nicht mög- licherweise nicht auch sehr monströs gehandelt haben, als sie dieses Buch gelesen haben. Der Realität wird die mediale Vermittlung durch die Medien gegenübergestellt, deren Hauptziel die Quotensteigerung zu sein scheint. 1 5 10 15 20 25 Der Kameramörder Ich schlug eine Zeitung auf. Ein großes Foto zeigte einen Jungen, der mit ausgestrecktem Arm auf einen hohen Punkt in einem Baum wies. Von diesem Punkt war ein schwarzer Pfeil abwärts gezeichnet, der den Absprungsort, die Flugbahn und den Ort des Aufpralls des Op- fers kennzeichnete. Meine Lebensgefährtin, die sich zunächst abgewandt hatte, beugte sich zu mir und fragte, ob das das überlebende Kind sei. Ich verneinte, es handle sich um ein gestelltes Foto, der Baum sei richtig, nur das Kind sei falsch. Der Bauer sagte, unglaublich, dieser Baum, er kenne den Wald, es sei dort gut, Schwämme zu suchen, und er sei mehrfach dort gewesen. Er habe jedoch keine Ahnung gehabt, daß dort eines Tages etwas so Furcht- bares geschehen würde, wie hätte er das wissen sollen. Unbedingt, unter allen Umständen müsse der Täter gefunden und mit ihm kurzer Prozeß gemacht werden. Mit diesen Worten drehte er sich um und schlenderte zurück zu seinem Haus. Heinrich nahm endlich am Tisch Platz. Hastig schenkte er sich Kaffee ein. Er biß in eine trockene Semmel und vertiefte sich in eine Zeitung. Eva fragte, ob er sich nicht wenigstens Butter hineinschmieren wolle. Heinrich grunzte nur, machte Hm und blieb völlig unansprechbar. Sie sagte, er möge sich bremsen. Er solle nicht vergessen, daß ihre Gäste nicht nur zum Fernsehen und Zeitungle- sen die weite Reise in die Steiermark gemacht hätten. Dieser Tag gehöre der Entspannung und der freundschaftlichen Unterhaltung, Zeitung weglegen. Heinrich lachte und tat, wie ihm geheißen. Er sagte jedoch, er könne sich nicht ganz von der Tragödie lösen. Tagsüber müsse er sich über die Geschehnisse wenigstens auf dem Laufenden halten, sonst würde seine Neugier ihn ersticken. Dies wurde ihm von Eva und meiner Lebensgefährtin unter Augenrollen gestattet. Er sprang auf und stürzte ins Haus. So sei das nicht gemeint gewe- sen, rief Eva ihm hinterher. Er war verschwunden. Ich schützte vor, zur Toilette zu müssen, und begab mich ebenfalls ins Haus, von kritisierenden Rufen der Frauen verfolgt. Heinrich saß mit einer aufgeschlagenen Zeitung auf den Knien vor dem Fernseher und studierte die Teletext nachrichten. Mit verschwörerischer Stimme sagte er, er kenne einen Gendarmen, Realität versus Darstellung in den Medien Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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