Killinger Literaturkunde, Schulbuch

382 66. Analysieren Sie Veras Verhältnis zu ihrer Umwelt: • Arbeiten Sie heraus, wie sie sich gegenüber Gleichaltrigen verhält. • Stellen Sie dem gegenüber, wie sich ihre Altersgenossen ihr gegenüber verhalten. • Ziehen Sie Schlussfolgerungen aus diesen Verhaltensweisen. Die auch als Dramatikerin hervorgetretene Marlene Streeruwitz (geb. 1950) beschreibt in ihren epischen Texten Facetten des Lebens von Frauengestalten aus der Sicht einer weiblichen Erzählerin. Ihr nüchtern-sachlicher Stil reduziert die Ereignisse auf die Beobachtung des Schicksals der Hauptfi- guren. Einerseits sind sie Opfer ihrer Beziehungen zu Männern und wollen sich vor ihren Nachstel- lungen schützen, andererseits geraten sie immer wieder in solche Situationen. In ihrem ersten Roman Verführungen. 3. Folge Frauenjahre (1996) schildert Streeruwitz das Leben von Helene, die – von ihrem Mann verlassen – mit zwei Kindern ihren Alltag zu bewältigen sucht. Eine besondere Wirkung geht von der kurzatmigen Prosa aus, in der die Wut und Ohnmacht Hele- nes vorgetragen wird. 1 5 10 15 20 25 Verführungen. 3. Folge Frauenjahre. Alex rief an. Sie sollten einander sehen. Helene sagte zu. Sie war seit Wochen nicht ausge- wesen. Alex holte sie ab. Sie gingen zum Heurigen. Sie saßen unter der großen Linde beim Welser in der Probusgasse. Alex war schweigsam. Helene bemühte sich, ein Gespräch zu führen. Wie es ihm gehe. Was er tue. Wo er lebe. Alex gab kurze Antworten und trank schon den dritten Gespritzten. „Vor einem Jahr waren wir glücklicher.“ Helene konnte nichts sagen. Sie sah ihn an. „Ich hätte bei dir bleiben sollen“, sagte Alex. Er klang bitter. „Ich kann mich ohnehin nicht verstehen“, sagte er. „Warum ich damals. Ich meine. Die Gitta. Sie hat. Damals. Ist es eben nicht.“ Er trank und bestellte den nächsten Gespritzten. Helene schob ihren Wein weg. Sie konnte nicht schlucken. Plötzlich. „Können wir nicht. Ich meine. Du. Und ich. Ich kann mich nicht scheiden lassen. Das kann ich mir nicht leisten. Aber ich werde allein leben. Ich suche eine Wohnung in Wien. Wir könnten doch. Zusam- men.“ Helene sah Alex beim Reden zu. Er sah auf den Tisch und fuhr mit dem Zeigeˆnger die Streifen der Karos auf dem Tischtuch entlang. Er hielt inne. „Helene. Wir sind. Ich meine. Wir sind einander doch appetitlich. Findest du nicht.“ Helene sah ihn an. Alex sah auf. Helene erinnerte sich an Brixen. Einen Augenblick lang. Vor einem Jahr. Blühende Bäume an einem steilen Hang. Der Balkon des Hotelzimmers, auf dem sie immer gegessen. Weil Alex im Speisesaal nicht mit ihr gesehen werden durfte. Ein Geschmack von Käse und geschmolzener Butter von den Schlutzkrapfen 1 . Und fahren. Neben ihm. Helene stand auf. Sie nahm ihre Handtasche. Sie küßte Alex auf die Wange und ging. Sagen konnte sie nichts. Sie ging die Probusgasse zur Armbrustergasse zurück. Über die Hohe Warte. Sie ging schnell und konzentriert. Helene kam zu Hause an. Sie war verschwitzt. Sie hatte das Gefühl, nach Schweiß zu riechen. Ihre Hände und Füße waren eiskalt. Trotz des langen Gangs war ihr kalt. Sie nahm ein Bad. Sie sperrte sich im Badezimmer ein und badete. Saß in der Wanne und ließ heißes Wasser nachlaufen. Bis sie rot vor Hitze geworden war. Am ganzen Körper. Im Fernsehen sah sie noch das Ende eines Krimis. Schimansky hatte einen Mörder zur Stre- cke gebracht. Aber er mußte viel trinken. Nachher. 1 Schlutzkrapfen: aus Tirol stammende Nudelspezialität Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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