Killinger Literaturkunde, Schulbuch

380 Die aus Linz stammende Autorin Anna Mitgutsch (geb. 1948) legte mit Die Züchtigung 1985 einen Roman vor, der aus der damaligen, feministischen Sicht eine komplizierte, auf Zuwendung und Ge- walt aufgebaute Mutter-Tochter-Beziehung zum Thema hat. Vera, die Tochter, versucht einerseits, die Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen, andererseits wird sie von der Gewalt abgestoßen, die sie in diese Richtung treibt. Sie erlebt gleichzeitig, wie sie ihre Mutter ablehnt und sich dennoch mit ihr identifiziert. Aus dieser Ambivalenz wird schlussendlich die Liebesunfähigkeit der Tochter erklärbar. 1 5 10 15 20 25 30 35 Die Züchtigung Ich wurde übergewichtig. Sie lobte mich, es gab keine Kämpfe mehr bei Tisch. Sie brauchte nicht mehr das Essen in mich hineinzuprügeln. Je mehr sie mich lobte, desto mehr aß ich, je mehr ich aß, desto mehr wurde ich gelobt. Ich aß, bis mir schlecht war, um noch mehr Gefallen zu erwecken, liebeheischend stopfte ich das Essen in mich hinein. Aufopfernd füllte sie mir den Teller immer wieder. Sie wagte es erst sehr viel später zu sagen, daß ich ihnen beiden das Essen wegfraß, daß ich sieben Schnitzel auf einmal aß und ihnen nur die Kartoffeln blieben. Ich hatte geglaubt, ich könne sie damit glücklich machen, daß ich so brav aß, ich wollte ja nur meinen guten Willen beweisen. Manchmal, sagte sie später, als es nicht mehr gutzumachen war, manchmal hab ich mir gedacht, rücksichtslos ist das Kind, frißt und frißt und fragt sich nicht, ob sonst noch wer hungrig ist. Mit dreizehn wog ich fünfundsechzig Kilo, war schwerfällig beim Turnen und ertrank beinahe beim Schwimmen. Unter dem Ÿehenden Blick meiner Mutter schrieb der Hausarzt Kreislaufstörungen und vegetative Dystonie ins Attest, aber unter uns gesagt, fügte er hinzu, viel Bewegung und ein bißchen weniger essen. Ich wurde vom Schwimmen befreit. Während der Sommerfe- rien lag ich im Liegestuhl und lernte Lateinvokabeln und Grammatik. Mama brachte mir Biskuittorten mit und Puddingcreme ans Lager, und ich aß, Stück für Stück, und verlangte folgsam nach mehr. Wie hätte ich ihre Torten von mir weisen können, ihre Mühe, ihre Aufopferung, ihre Liebe, die meinen Körper in einen Fettkloß verwandelten. Nach zwei Monaten pausenlosen Essens und Lernens im Liegestuhl war ich die Dickste der Klasse. Meine Beine waren formlos mit weißen Rissen in der Haut. Mama befühlte meine Schenkel und freute sich, ihre Mühe trug sichtbare Früchte, das Kind war gut genährt. Ich war das Gespött der Klasse, FettŸeck, Statistin, riefen sie beim Turnen und lachten, wenn ich nach dem fünften Anlauf auf dem Bock hängen blieb. Aus unscheinbaren, schlak- sigen Kindern waren modebewußte junge Mädchen geworden, wie Knospen sprangen sie auf, hatten heimliche Rendezvous, litten an der ersten Liebe, wurden geküßt und zuckten die Achseln über schlechte Noten. Ich blieb matronenhaft, mit einem Haarknoten auf dem Hinterkopf, der mit dem Ballen ausgefallener Haare ständig wuchs, in Umstandsblusen und losen Röcken, der FettŸeck mit dem Ÿiehenden Kinn, dem zu großen Mund, den abstehen- den Ohren und der schwarzen Brille, die das düstere Gesicht noch mehr verˆnsterte. Aber ich wurde plötzlich Klassenbeste, die Streberin, von der die anderen schnell vor acht die Hausaufgaben abschreiben konnten. Meine Mutter war glücklich, die Pubertätskrise war überwunden. Es gab keine Illustrierten mit angeschwärmten Schauspielern mehr zwischen den Heften, ich kam immer gleich nach der Schule nach Hause und hatte immer alle Haus- aufgaben richtig, die Vierer verschwanden aus meinen Schularbeitenheften, die Sehr Gut wurden wie früher in der Volksschule zur Selbstverständlichkeit. Sie hatte auch diese Runde gewonnen. Vera ißt brav, Vera lernt brav, Vera macht mir jetzt viel Freude, sagte sie zu ihren Schwestern. Mit vierzehn bekam ich auch die letzten Schläge. Ich hatte laut an meiner Exis- tenz gezweifelt. Es ist nicht meine Schuld, daß ich auf der Welt bin, hatte ich gesagt. Das ist Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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