Killinger Literaturkunde, Schulbuch

379 1 5 10 15 Endlich kann ich den Gedanken, die Tabletten, nimm die Tabletten, fassen. Beim Schlucken wieder der Nelkengeruch, aber die Schmerzen werden bald vergehen, die Schmerzen werden gleich vergangen sein. Ich kleckere ja nicht, ich nehme gleich ordentlich. Ich lege mich wie- der hin und warte, bis die Tabletten die Schmerzen vertreiben, bis eine große Dumpfheit in mich tritt, um das Andenken an die Schmerzen zu halten. Jetzt stehe ich auf und schenk mir Wein ein in ein Glas, das ich mit beiden Händen halt und rieche: Wein. Nachtdunkel riecht er, herb riecht er, Rotwein, der wie Rotwein riecht. Fabian, Christines Mann, hütete sich davor, den Erzähler für reaktionär zu halten. Zum einen hatte er ihn eingeladen – und Gäste hält man nicht für reaktionär –, zum anderen hatte er es sich abgewöhnt, auch nur irgendjemanden für reaktionär zu halten. Als Student war er herumgerannt und hatte allem und jedem dieses Attribut umge- hängt. Weil er fromm und eifrig war – und Frömmigkeit und Eifer waren die Säulen der Bewegung –, genoss er unter den 68ern Wiens einiges Ansehen. Irgendwann hatte er es geschafft, trotz brennenden Engagements das Medizinstudium abzuschließen, was Bände über sein Organisationstalent spricht. Dann ging es Schlag auf Schlag: Um den Turnusplatz angesucht, den weißen Mantel um den Selbstwert gehängt, das Establish- ment verstanden, Teil des Establishments geworden, niemanden für reaktionär gehalten, nicht einmal sich. […] 1 5 10 Erzählerin 1: Ich erzähle das Ende Du bist komplett verrückt, du gehst allein bei diesem Wetter und bei Lawinenwarnstufe IV, hat Fabs geschrien. Irgendwie hat mich sein Ausrasten gefreut, die Sorge war aus der Beherrschung gesprungen und hatte heftig gekleppert. Ich bin tatsächlich verrückt: Aus der Wirklichkeit, die den anderen das Leben zusammenhält, bin ich längst draußen. Weiß ist es um mich her, die Buchen halten auf kahlen Ästen den Schnee: Stege laufen hell gegen das Dunkelgrau. Ich halte mein Gesicht wie einen Teller nach oben, als milde Gabe legt der Himmel die Flockensaat drauf, ich schließe die Augen: kühlgeˆederter Löwenzahn. Ich gehe weiter und höre mich aus der Ferne – ein Klappern, ein Rascheln, ein Atemziehen und Ausfauchen – der Schnee streicht das Nahe aus den Geräuschen. Die Fichten sehen wie dunkel geschuppte Kegel aus, über mir dann die Äste unter mächti- gen Hauben, ich bücke mich: Schneerieseln als Gruß. […] 1 5 Erzählerin II: Ich erzähle das Ende Jetzt zu Christine. Christine hat den Eindruck, aus sich heraus zu sein. Das Heraussein, das sich einrückt in sie, gibt ihr gute Sicht auf sich. Trümmerfrakturen, Unterkühlung, Hämatome. Als Todesursache wird letztlich Erfrieren namhaft gemacht. Wollte man in dieser Situation Christines Sicht auf sich beschreiben, müsste man sagen, sie sah sich klingen. Aus- und Zusammenklingen. Konzentration, vor allem Schmerzkonzentration und die Konzentration des Lebens auf sich, beschreibbar als physiologische Konzentra- tion und ein Überallsein, eine Art Dezentrierung: Christine wurde gleichgültig, nicht im Sinne einer Indifferenz, sondern im Sinne eines Gleichwerts, eines Gleichwertvollseins. 64. Analysieren Sie die Rolle der beiden Erzählerinnen: • Arbeiten Sie die Unterschiede heraus. • Kommentieren Sie die Folgen dieses Erzählmodus für den Text als Ganzes. ne3w6m DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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