Killinger Literaturkunde, Schulbuch

377 Die Hauptfiguren in Bernhards Romanen sind außerordentliche Persönlichkeiten, „Geistesmen- schen“, für die das Leben ein Gefängnis, eine Krankheit, eine immerwährende Katastrophe ist. Sie scheitern alle, weil sie in dieser chaotischen, verstörenden und zerstörten Welt scheitern müssen. Bernhard versteht sich als „Antierzähler“, als Verweigerer der Erzähltradition. Er will keine spannen- den und keine zu Herzen gehenden Geschichten schreiben, sondern provozieren und zum Nach- denken anregen. Geschichten hasse ich im Grund. Ich bin ein Geschichtenzerstörer. Kennzeichnend für Bernhards gesamtes Werk ist das Stilmittel der Wiederholung. Die Texte beste- hen aus häufig verwendeten Sätzen und Wortgruppen, die nur wenig variieren. Hier ein Beispiel aus Gehen (1971): 1 5 10 15 20 25 Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler. Weil Karrer am Montag mit mir gegangen ist, gehen Sie, nachdem Karrer am Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt Oehler, nachdem Karrer verrückt und sofort nach Steinhof hinaufgekommen ist. Und ohne zu zögern, habe ich zu Oehler gesagt, gut, gehen wir auch am Montag, nachdem Karrer verrückt geworden ist und in Steinhof ist. Während wir am Mittwoch immer in die eine (in die östliche) Richtung gehen, gehen wir am Montag in die westliche, auffallenderweise gehen wir am Montag viel schneller als am Mittwoch, wahrscheinlich, denke ich, ist Oehler mit Karrer immer viel schneller ge- gangen als mit mir, weil er am Mittwoch viel langsamer, am Montag viel schneller geht. Aus Gewohnheit gehe ich, sehen Sie, sagt Oehler, am Montag viel schneller als am Mittwoch, weil ich mit Karrer (also am Montag) immer viel schneller gegangen bin als mit Ihnen (am Mittwoch). Weil Sie, nachdem Karrer verrückt geworden ist, nicht nur mehr am Mittwoch, sondern auch am Montag mit mir gehen, brauche ich meine Gewohnheit, am Montag und am Mittwoch zu gehen, nicht zu ändern, sagt Oehler, freilich haben Sie, weil Sie jetzt Mitt- woch und Montag mit mir gehen, Ihre Gewohnheit sehr wohl verändern müssen, und zwar in für Sie wahrscheinlich unglaublicher Weise verändern müssen, sagt Oehler. Es sei aber gut, sagt Oehler, und er sagt es in unmissverständlich belehrendem Ton, und von größter Wichtigkeit für den Organismus, ab und zu und in nicht zu großem Zeitabstand die Gewohnheit zu ändern, und er denke nicht nur an ändern, sondern an ein radikales Ändern der Gewohnheit. Sie ändern Ihre Gewohnheit, sagt Oehler, indem Sie jetzt nicht nur am Mittwoch, sondern auch am Montag mit mir gehen und das heißt jetzt abwechselnd mit mir in die eine (in die Mittwoch-) und in die andere (in die Montag-) Richtung, während ich meine Gewohnheit dadurch ändere, dass ich bis jetzt immer Mittwoch mit Ihnen, Mon- tag aber mit Karrer gegangen bin, jetzt aber Montag und Mittwoch und also auch Montag mit Ihnen gehe und also mit Ihnen Mittwoch in die eine (in die östliche) und Montag mit Ihnen in die andere (in die westliche) Richtung. 62. Untersuchen Sie die Sprache Thomas Bernhards: • Beschreiben Sie die Wirkung, die der Autor mit der Technik der Wiederholung erreicht. • Diskutieren Sie, welche Haltung die Leserin oder der Leser dem Text entgegenbringen muss. vv7d4h DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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