Killinger Literaturkunde, Schulbuch

374 Der „Ingenieur“, ein Mitglied der Neonazigruppe, spricht über seinen „Führer“, den „Geringsten“, der Adolf Hitler nachgebildet ist: 1 5 10 15 Der Geringste , wiewohl er uns jede Bemerkung, die ihn über andere gestellt hätte, strikt verbat, war kein Gewöhnlicher. Gerade weil wir das nicht sagen durften, war es umso au- genscheinlicher. Er war anwesend wie niemand sonst. Man spürte ihn, wenn er eintrat, auch wenn man nicht hinsah. Wenn er zu reden anˆng, verstummten alle. Niemand hat ihn zum Führer gemacht. Er war es einfach. Auf ihn haben alle gehört. Oft brauchte er nicht einmal etwas zu sagen. Man hat ihm in die Augen gesehen und verstanden, was er meinte. Alles teilte sich aus seinen Augen mit. Diese Sprache war mindestens so wichtig wie seine Worte. Vielleicht war es das völlige Übereinstimmen dieser beiden Sprachen, das ihn so einmalig machte. Er war ganz er selbst. Nein, er war wir. Nie hatte ich das Gefühl, dass er für sich selbst etwas wollte. Er war die Bewegung. Er verkörperte sie voll und ganz. Wir fanden uns in ihm. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können. [...] Der Blick des Geringsten konnte auch ermutigen. Er besagte: „Was immer auch kommen mag, ich bin bei dir. Auf mich kannst du zählen bis ans Ende der Tage.“ Gerade war man noch verzweifelt gewesen, hatte Scherereien mit der Polizei, mit Kollegen oder mit Passanten gehabt. Dann kam man in das Blickfeld des Geringsten , und alle diese persönlichen Wehwehchen und Kränkungen waren plötzlich lächerlich, gemessen an der gemeinsamen Aufgabe, die uns zusammenhielt. Der Revierinspektor Fritz Amon berichtet aus der Sicht der Polizei: 1 5 10 15 20 Es war, wie gesagt, nicht viel los im Museumseck. Dennoch lohnte es, gelegentlich auch dienstlich nachzuschauen, seit ich dort eines Morgens einen Finger fand. Einen abgetrenn- ten kleinen Finger. Das lag mindestens ein Jahr, nein länger, es war ja eine Frühlingsnacht, über eineinhalb Jahre zurück. Als wir am Opernball zufällig am Fundort vorbeigingen, hat- te ich natürlich keine Ahnung, dass dieser Finger am Abend noch eine große Rolle spielen sollte. Er hatte etwas mit der Katastrophe zu tun. Ich warte ja jeden Tag, dass die Kommis- sion mich dazu einvernimmt. Immerhin war ich es, der den Finger als erster gesehen hat. Ich könnte der Kommission die genaue Stelle zeigen. Zufällig hatte ich während der Patrouille hingeschaut. Ich war mit meinem einführenden Kollegen unterwegs. Wir hatten dieselben Arbeitszeiten. Wenn man neu ist bei der Polizei, wird man jemandem zugeteilt, der sich schon auskennt. Mein einführender Kollege hat mich immer sehr in Schutz genommen. Ein feiner Mensch. Jetzt sind wir getrennt. Jetzt ist ja alles anders. „Du, da liegt ein Finger“, habe ich gesagt. Mein Kollege war noch weiter hinten. Er wollte es nicht glauben. Als er näher kam, sah er es auch. Ich dachte zuerst an einen Scherzartikel. Mein Kollege stupste mit der Fußspitze daran herum, dann beugte er sich hinab. Es war ein Finger. Ich hatte zufällig ein frisches Taschentuch einstecken. Darauf legt meine Frau großen Wert. Jeden Tag fragt sie mich: „Hast du ein frisches Sacktuch einstecken?“ Mein Kollege wickelte den Finger ein. Im Kommissariat legten wir den Fund ins Eisfach des Kühlschranks. Wegen eines Fingers kann man ja nicht gleich den Notarzt verständigen. Was sollte er damit machen, wenn sonst nichts da ist? Wir schrieben ein Protokoll und wurden uns nicht einig, ob es ein kleiner Finger der rechten oder der linken Hand war. Immer Nur zu Prüfzwecken – E g ntum des Verlags öbv

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