Killinger Literaturkunde, Schulbuch

368 Norbert Gstrein (geb. 1961): Einer (1988), O2 (1993), Die ganze Wahrheit (2010) u. a. Daniel Kehlmann (geb. 1975): Mahlers Zeit 1999, Ich und Kaminski (2003), Die Vermessung der Welt (2005), Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten (2009) u. a. Der Roman Herrenjahre von Gernot Wolfgruber zeigt das Schicksal „kleiner Leute“ und ihr Leben in der Kleinstadt. Melzer, von Beruf Tischler, der sich im- mer die „klassesten Katzen“ aufgerissen hat, heiratet, mehr oder weniger un- überlegt, eine kränkliche, gar nicht at- traktive Frau. Es wird im Wirtshaus mit der Verwandtschaft Hochzeit gefeiert. 1 5 10 15 20 Als Melzer nach etlichen Doppelten aufs Klo geht, merkt er, dass er anfängt, richtig be- trunken zu werden. Er hat sich im Spiegel über dem Waschbecken angegrinst und sehr gut aussehend gefunden. [...] Er geht zurück ins Extrazimmer, das ihm nur noch als ein nicht mehr zu übersehendes Durcheinander vorkommt. Scheißverwandtschaft, denkt er, obwohl es ihm schon ganz gleichgültig ist, dass er mit allen da verwandt ist. Er will jetzt nur mehr den Tag halbwegs hinter sich bringen, dann ist schon alles in Ordnung. [...] Du hast heute schon ein bissel zu viel, meint Hubert, und wennst so weiter machst, bist in einer Stunde eine Leich. Er glaubt das auch, sagt Onkel Otto, der sich mit einem Glas neben Melzer setzt. Melzer erklärt, dass ein ordentlicher Tischler wie ein fünftüriger Schrank stehe, den könne nichts umhauen, und außerdem sei ihm das auch gleich, heute habe er ja ohnedies nichts mehr Großes vor. Na und die Hochzeitsnacht? grinst Onkel Otto. Die, sagt Melzer und legt seinen Arm um Maria, die haben wir eh schon lang hinter uns. Er hat plötzlich das Gefühl, dass er eigentlich schon alles hinter sich hat, und es geht nur mehr so weiter, wie wenn man, einmal im Laufen, nicht gleich stehen bleiben kann. Er kommt sich vor wie früher am Ende der Ferien, und er schaut zum Fenster, gegen das der Regen schlägt. Das passt ganz genau, denkt er, einen besseren Tag hätt ich mir gar nicht aussuchen können. Was ist denn, fragt Maria, was hast du denn? Was soll ich denn haben?, sagt er. Weilst so dreinschaust, sagt sie. Aber was, sagt Melzer, gar nichts. Er greift nach ihrem Glas, der schönste Tag im Leben ist heute, sagt er, weißt es ja eh. Gegen fünf, außer den Frauen waren alle schon ziemlich betrunken, kam der Wirt und sagte, dass sie jetzt bald Schluss machen müssten, weil um sieben habe der Anhängerklub des Fußballvereins eine Sitzung. Melzer lehnte neben Maria im Sessel und starrte stumpf vor sich hin. Manchmal, wenn er einen Satz aufschnappte, zu dem ihm von selbst etwas einˆel, ˆng er heftig zu reden an und Szenenausschnitt aus Axel Cortis Verfilmung von Gernot Wolfgrubers Roman Herrenjahre (Ö/BRD 1983) mit Peter Simonischek als „Bruno Melzer“ Schicksal „kleiner“ Leute Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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