Killinger Literaturkunde, Schulbuch

366 1 5 10 15 Das innere Salzkammergut zeichnet sich durch Vollbärte und Krachlederhosen aus (Lassen SIE persönlich sich auch einmal einen Vollbart wachsen!) Das durch die Hallstattzeit weit über die Grenzen Hallstatts hinaus bekannte Hallstatt, das zwischen gigantischen Steil- wänden und dem gespenstisch dunklen See eingeklemmt ist, erkennt man sofort an seinem Platzmangel. Parade ohne Promenade unmöglich. Völlig autofrei, aber völlig unfreiwillig. Was die Pfahlbauten betrifft, stellen die Hallstätter Hallstatt über Venedig, was die ge- schichtliche Bedeutung und die Ausgrabungen angeht, über Rom. Wir bleiben fair. In den Schaukästen des prähistorischen Museums die prähistorischen Funde: Aus Leder geŸochte- ne Tragkörbe, Werkzeug, Waffen, Damenschmuck. Eitel waren sie schon auch, die vorzeit- lichen Goldhaubentussis, bei allen geologischen Unzukömmlichkeiten. Und Jahreszahlen, Jahreszahlen, Jahreszahlen. Mittelschulnachholungstourismus. Aber man darf das Museum auch ohne Prüfung und Matura wieder verlassen. Das Salzbergwerk ist in der Krise, Mee- ressalz ist billiger. Seinerzeit hat es Hunderte Kumpel gegeben, nach der nächsten Abbau- welle sollen 35 übrig bleiben, das ist auch für einen Tausendseelenort ein wenig wenig, der Trend geht in Richtung Erlebnisschausalzbergwerk, Touristenstollen und AusŸugseishöhlen. Aber die Saline ist für die Identität Hallstatts unverzichtbar und nicht wegzudenken, sagen die Hallstätter, würde das Salzbergwerk geschlossen, wäre das schon rein multikulturell mindestens genauso schlimm, als würde in Wien das Burgtheater geschlossen, sagen die Hallstätter. 20 25 30 35 40 45 Die Hallstätter Hausfrauen plaudern noch ungezwungen von Balkon zu Balkon, das taugt den AusŸugsamis aus den Wolkenkratzern. Bei tausend Seelen kennt freilich jeder jeden. Auch auf dem Kirchfriedhof. Elisabeth Gamsbacher, 1968–1989. Früh verstorben. Die da? Ja, die Sissy. Eine Seele von einem Menschen. Naja, Kopftumor. In der Kirche gibt es drei parallele Altäre, einen für die Kumpel, einen für die Bürger, einen für das Gesindel, das vor ein paar Jahren die wunderschönen SeitenŸügel gestohlen hat. Zweckdienliche Hinweise nähme jede Polizeidienststelle entgegen, kommen aber keine. Wie in ganz Hallstatt herrscht auch auf dem Friedhof extreme Raumnot, so gibt es im Friedhof einen konzentrierten Friedhof für Langzeittote. Der Ransmayr Christoph hat den einmal sehr schön im Oberös- terreich-Merian beschrieben, realistisch, aber doch irgendwie andächtig. Mit Pietät. (Lesen einmal SIE persönlich Ransmayr Christoph. Hier abermals: Freiwillig. Kultur muss ja nicht immer gleich in Kunst ausarten.) So nach zehn, zwölf Jahren werden die Skelette aus der Erde delogiert und ins sogenannte Beinhaus gebracht, ein Leckerbissen für jeden Toten- touristen. Auf einem Knochensockel sind da über tausend Totenschädel gestapelt [...]. Alle fein-säuberlich gebleicht, hübsch rustikal bemalt und am Stirnbein mit Namen, Geburtstag, Todestag und manchmal persönlichen Angaben versehen. Derart dem ewigen Vergessen entrissen, gelangen sie in Photoalben aus Miami und Sapporo, Vancouver, Neufundland, Seychellen und so fort, Grabsteine ihrer selbst, wo gibt’s das sonst noch? Unterkiefer und Gebisse haben sich meistens nicht am Kopf gehalten, aber Gebissprobleme sind nun einmal Zivilisationserscheinungen, und man weiß auch so, wer gemeint ist. Nur der bildende Künstler selbst will lieber anonym bleiben. Gut. Und der Bruckner fehlt. Kann ja nicht überall sein. Dafür Schulklassen noch und nöcher. Eintritt für Erwachsene wie gehabt. Heute müssen die Hallstätter freilich vorher ausdrücklich unterschreiben, wenn sie nachher hineinwollen. Wie vor einer Blinddarmoperation. Einer ist übersiedelt: Ein Gei- genbauer hat seinen Großvaterschädel bei sich daheim am Fensterbankerl, tagtäglich schaut er in der Abendsonne auf seinen geliebten See hinaus. (Ach ja, bemalen auch SIE persönlich einmal ... oder nein, lassen Sie’s bitte.) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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