Killinger Literaturkunde, Schulbuch

364 pRosA-L I TERATuR In ösTERREIcH Die kurzen Prosastücke der Autorinnen und Autoren, die in den 1940-er Jahren geboren wurden und Ende der 1960-er, Anfang der 1970-er Jahre zu publizieren begannen, sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie keine Geschichte erzählen, keine Handlung im herkömmlichen Sinn haben. Davor hatte selbst die kürzeste Kurzgeschichte eine – oft sehr ereignisreiche – Handlung. Nun for- dert Michael Scharang (geb. 1941) als Vertreter der jungen Generation: „Schluss mit dem Erzählen!“ Die Schriftsteller/innen wollen nicht unterhalten, sondern die Lesenden sozialkritisch erziehen und zum Handeln im Sinn einer neuen Gesellschaftsordnung motivieren. Häufig begnügen sie sich aber auch damit, die Bürger/innen zu schockieren und zu ärgern. Zudem wird Sprache verfremdet, mon- tiert. Vordergründig nicht Zusammengehörendes wird nebeneinander gestellt; banale Sätze aus der Alltagssprache werden aneinandergereiht. Auch die Kurzprosa von Alois Brandstetter (geb. 1938) demaskiert althergebrachte, verfestigte Ein- richtungen und Wertvorstellungen mit außerordentlichem Sinn für das Grotesk-Komische. 1 5 10 15 20 Alois Brandstetter Über das Wesen der Freiwilligen Feuerwehr (1971) Das Wichtigste an der Feuerwehr ist ihr freiwilliges Wesen. Der Feuerwehrmann kennt seine Schläuche in- und auswendig. In der Katastrophe ist der Mensch ohne Feuerwehr manch- mal sehr einsam. An der Sirene erkennt man die Feuerwehr. Die schlechte Feuerwehr hat ein heiseres Horn. Bei der Berufsfeuerwehr entfällt leider Gottes die Freiwilligkeit. Notge- drungen arbeiten wir auch mit der Berufsfeuerwehr zusammen. Wir lassen uns nicht von Lausbubenstreichen missbrauchen. Heute verziert der heilige Florian das Zeughaus. Zur Linde ˆndet der Ball statt. Der Herr Geistliche Rat ist auch da. Die jungen Leute tanzen. Die Musik spielt. Wir sind aber auch heute auf der Hut. Ein starkes Unwetter erfüllt die Bedingungen des Alarms. Ohne Eintrittskarte kommt uns keiner hinein. Dreimal hoch und dreimal tief ist das Feuer. Das Fahrzeug ist selbstverständlich allezeit betriebsbereit. Ein A-Schlauch ist kein C-Schlauch. Die Rede des Bürgermeisters spornt uns zu neuen Taten an. Der Bürgermeister heftet dem Hauptmann infolge der großen Einsatzfreude eine Medaille an. Der Hauptmann hat sich das längst verdient. Wir denken nicht daran, uns auf der neuen Motorspritze auszuruhen. Auch das Hochwasser gehört in unser Ressort. Wasser kann man dummerweise nicht löschen. Blitzschläge haben einen Seltenheitswert. Die Donau zieht das Unwetter an. Am Jahresende rechnen wir die Brände zusammen. Die Einsätze können praktisch mit zwei multipliziert werden. Brandstiftung ist möglich. Die Gemeinde blickt voller Stolz auf uns hernieder. Die Hauptversammlung dauert lange. Die Frankfurter sind nur ein bescheidner Dank des Gemeinwesens. Das Bier schmeckt wie nach der Übung. Es regnet Leistungsabzeichen. Lebensretter ist etwas Schönes. Beim Fotograˆe- ren steht der Hauptmann in der Mitte. Satire Die Satire, die in allen Gattungsformen vorkommt, beruht auf einer spezifischen sprachlichen Verfahrensweise: Die Schreiber/innen üben an Schwächen der Menschen, an Institutionen und Zuständen Kritik, indem sie übertreiben (wie der Karikaturist) und ihre Opfer der Lächerlichkeit preisgeben. Die Leser/innen sollen aus der Satire lernen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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