Killinger Literaturkunde, Schulbuch

362 20 25 30 35 Vaterstadt!) Die neuen Paßfotos fandet ihr – im Gegensatz zu den Angestellten der Volkspo- lizeimeldestelle – euch unähnlich, eigentlich abscheulich, weil sie dem Bild, das ihr von euch hattet, um den entscheidenden nächsten Altersschritt voraus waren. Lenka war, wie immer, gut getroffen, nach eurer Meinung. Sie selbst verdrehte die Augen, um sich zu ihren Fotos nicht äußern zu müssen. Während die Anträge auf Ausreise und bei der Industrie- und Handelsbank die Gesuche um Geldumtausch liefen, bestellte Bruder Lutz in der Stadt, die in deinen Formularen zwei- sprachig, unter verschiedenen Namen auftauchte, als „Geburtsort“ L. und als „Reiseziel“ G., vorsichtshalber telegraˆsch Hotelzimmer, denn ihr kennt in deiner Heimatstadt keine Menschenseele, bei der ihr hättet übernachten können. Fristgerecht konntet ihr sowohl die Anlagen zum Personalausweis als auch die dreimal dreihundert Zloty in Empfang nehmen, und du verrietest dich erst am Vorabend des geplanten Reisetages, als Bruder Lutz anrief und mitteilte, er habe es nicht geschafft, seine Papiere abzuholen: Da machte es dir nicht das geringste aus, eine ganze Woche später zu fahren. Es war dann also Sonnabend, der 10. Juli 1971, der heißeste Tag dieses Monats, der seiner- seits der heißeste Monat des Jahres war. Lenka, noch nicht fünfzehn und an Auslandsreisen gewöhnt, erklärte auf Befragen höŸich, ja, sie sei neugierig, es interessiere sie, doch, ja. H., sowenig ausgeschlafen wie du selbst, setzte sich ans Steuer. An der verabredeten Stelle beim Bahnhof Schönefeld stand Bruder Lutz. Er bekam den Platz neben H., du saßest hinter ihm, Lenkas Kopf auf deinem Schoß, die, eine Gewohnheit aus Kleinkindertagen, bis zur Grenze schlief. 50. Analysieren Sie, mit welchen Emotionen die Erzählerin an diese Reise herangeht: • Arbeiten Sie heraus, inwiefern diese Fahrt wichtig für ihr Selbstverständnis ist. • Erläutern Sie, welche Aspekte gegen diese Reise sprechen. • Diskutieren Sie, wie der Begriff „Heimat“ thematisiert wird. 51. Untersuchen Sie die Realität der frühen 1970-er Jahre in der DDR, die dieser Text auch zeigt: • Beschreiben Sie, mit welchen Problemen die Reisenden konkret konfrontiert sind. • Stellen Sie fest, wie diese Probleme gelöst werden. • Ziehen Sie Rückschlüsse auf das politische und gesellschaftliche System anhand dieses Ab- schnitts. Der DDR-Lyriker und Erzähler Reiner Kunze (geb. 1933) war ursprünglich Mitglied der SED, hatte sich jedoch im Lauf der 1950-er Jahre zunehmend davon distanziert, weshalb er ein Ziel der Stasi- Überwachung wurde, die bis 1989 anhielt. Die Veröffentlichung seiner Stasi-Akte zeigte, dass er von einem Freund der Familie regelmäßig überwacht wurde. In seinem Prosaband Die Wunderbaren Jahre (1976) kritisiert er die Lebensumstände von Jugend- lichen in der DDR scharf, besonders die Bevormundung durch die Behörden und den Staat. Da sein Text jedoch im Westen ohne Zustimmung der Behörden publiziert wurde, wurde er aus dem Schrift- stellerverband ausgeschlossen und musste schließlich die DDR verlassen. 1 Fünfzehn Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon ein einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppelschleppe: lässig um den Hals geworfen, fällt er in ganzer Breite über Schienbein und Wade. (Am liebsten hätte sie einen Schal, an dem Kritik an den Lebensumständen in der DDR Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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