Killinger Literaturkunde, Schulbuch

361 pRosA-L I TERATuR In DER DDR Die Anfänge der DDR-Literatur sind geprägt von Autorinnen und Autoren, die schon in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs schriftstellerisch tätig waren und die – wie Anna Seghers – ideologisch zu den Zielen der DDR-Kulturpolitik passten. Die Hauptstoßrichtung lag in den An- fangsjahren in der Fortführung antifaschistischer Traditionen und im Aufbau einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Christa Wolf (1929 – 2011) wurde zu einer der wichtigsten Schriftstellerinnen der ehemaligen DDR und repräsentierte auch die Verwerfungen, die sich nach der Wende 1989 ergaben. Christa Wolf, geboren in Landsberg/Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski, Polen), war Mitglied und später Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR und war lange Zeit eine in Ost und West hoch- geschätzte Schriftstellerin, der es gelungen war, trotz der Einschränkungen der DDR-Kulturpolitik ihre künstlerische Laufbahn zu verfolgen. Anfangs stand sie der offiziellen Kulturpolitik sehr nahe, sie war sogar Anfang der 1960-er Jahre kurz für die Staatssicherheit tätig und wurde später auch Kandidatin für das Zentralkomitee der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Sie wurde jedoch ab etwa 1962 selbst überwacht. Nach ihrem Eintreten für Wolf Biermann wurde sie 1976 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ihre Erzählung Was bleibt (1979/1989, veröffentlicht 1990) löste eine heftige Kontroverse aus, da darin die Überwachung durch die Stasi thematisiert wurde. Ihr wurde vorgeworfen, dass sie sich da- mit als Kritikerin des Systems darzustellen versucht hätte, obwohl sie lange Jahre als Aushängeschild der DDR-Literatur privilegiert gewesen wäre. Ihr Roman Der geteilte Himmel (1963) thematisiert die deutsche Teilung im Anschluss an den Bau der Berliner Mauer 1961. Mit dem Roman Nachdenken über Christa T. (1968) entwickelte Christa Wolf ihr Programm der „subjektiven Authentizität“, indem sie versuchte, die objektive Realität der gesellschaftlichen Entwicklung mit der subjektiven Wirklichkeitserfahrung zu verbinden. In dem autobiographischen Text Kindheitsmuster (1976) besucht die Erzählerin mit ihrer Familie ihre Heimatstadt L., das heutige G. in Polen. 1 5 10 15 Kindheitsmuster Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag, doch endlich nach L., heute G., zu fahren, und du stimmtest zu. Obwohl du dir wiederholtest, daß es nicht nötig wäre. Aber sie sollen ihren Willen haben. Der Tourismus in alte Heimaten blühte. Zurückkehrende rühmten die fast durchweg freundliche Aufnahme durch die neuen Einwohner der Stadt und nannten Straßenverhältnisse, VerpŸegung und Unterkunft „gut“, „passabel“, „ordentlich“, was du dir alles ungerührt anhören konntest. Was die Topographie betreffe, sagtest du, auch um den Anschein wirklichen Interesses zu erwecken, könntest du dich ganz auf dein Gedächt- nis verlassen: Häuser, Straßen, Kirchen, Parks, Plätze – die ganze Anlage dieser im übrigen kaum bemerkenswerten Stadt war vollständig und für immer in ihm aufgehoben. Eine Besichtigung brauchtest du nicht. Trotzdem, sagte H. Da ˆngst du an, die Reise gewissen- haft vorzubereiten. Der visafreie Reiseverkehr war zwar noch nicht eingeführt, aber schon damals wurden die Bestimmungen lax gehandhabt, so daß der nichtssagende Vermerk „Stadtbesichtigung“ , in die dreifach auszufertigenden Antragsformulare unter der Rubrik „Begründung“ eingetragen, anstandslos durchging. Zutreffende Angaben wie „Arbeitsrei- se“ oder „Gedächtnisüberprüfung“ hätten Befremden erregt. (Besichtigung der sogenannten Subjektive Authentizität nn8w5y DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

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