Killinger Literaturkunde, Schulbuch

360 1 5 10 15 20 25 30 Peter Bichsel San Salvador (1963) Er hatte sich eine Füllfeder gekauft. Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellen- linien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist es hier zu kalt“, dann „ich gehe nach Südamerika“, dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie 1 garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch groß- zügig seinen Namen Paul darunter. Dann saß er da. Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überŸog dabei die Kinoinserate, dachte an irgendetwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien, ent- leerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die Probe des Kirchenchores dauerte bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab. Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blau- schwarzer Schrift sein Name Paul. „Mir ist es hier zu kalt“, stand auch darauf. Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein. Sie würde in den „Löwen“ telefonieren. Der „Löwen“ ist mittwochs geschlossen. Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abˆnden, vielleicht. Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringˆnger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlangfahren, dann langsam den Mantel aufknöpfen. Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanwei- sung für den Füller noch einmal – leicht nach rechts drehen – las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Pal- men, dachte an Hildegard. Saß da. Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder?“ Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. 49. Besprechen Sie diese kurze Geschichte, in der ein Mann auf seine Frau wartet: • Interpretieren Sie den Titel. • Charakterisieren Sie diesen Mann. • Beschreiben Sie die Beziehung, die dieser Mann und diese Frau führen. • Erläutern Sie die Wirkung, die dieser Text auf Sie hat. 1 Papeterie: Papierwarenhandlung (schweiz.) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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