Killinger Literaturkunde, Schulbuch

358 135 140 145 150 155 160 165 170 175 Das Kind fasste den Saum seines Kleides mit beiden Händen. „So –“, sang es, „und so –“, und es hüpfte wie ein Vogel am Rand. Aber der Junge bewegte sich nicht. Das Kind lächelte ungeduldig. Wieder hob es den Fuß über den Rand, den einen – den anderen – den einen – den anderen –, aber der Junge konnte nicht tanzen. „Komm!“, rief das Kind. Niemand hörte es. „So!“, lächelte es noch einmal. Der Zug raste um die Kurve. Die Frau neben der Leiter bemerkte ihre freie Hand, ihre freie Hand warf sie herum. Sie griff nach dem Saum eines Kleides, als wollte sie den Himmel greifen. „So!“, rief das Kind zornig und sprang auf die Schienen, bevor der Zug das Bild des Jungen verdecken konnte. Niemand war imstande, es zurückzureißen. Es wollte tanzen. In diesem Augenblick begann die See die Füße des Jungen zu netzen. Wunderbare Kühle stieg in seine Glieder. Spitze Kiesel stachen in seine Sohlen. Der Schmerz jagte ihm Ent- zücken in die Wangen. Zugleich fühlte er die Müdigkeit in seinen Armen, breitete sie aus und ließ sie sinken. Gedanken falteten seine Stirne und schlossen seinen Mund. Der Wind begann zu wehen und trieb ihm Sand und Wasser in die Augen. Das Grün der See vertiefte sich und wurde undurchsichtig. Und mit dem nächsten Windstoß verschwand das Wort Jugend vom blauen Himmel und löste sich auf wie Rauch. Der Junge hob die Augen, doch er sah nicht, wie der Mann von der Leiter sprang, als stieße ihn jemand zurück. Er legte die Hände hinter die Ohren und lauschte, doch er hörte nicht das Schreien der Menschen und das grelle Hupen des Rettungswagens. Die See begann zu Ÿuten. „Ich sterbe“, dachte der Junge, „ich kann sterben!“ Er atmete tief, zum ersten Male atmete er. Eine Handvoll Sand Ÿog ihm ins Haar und ließ es weiß erscheinen. Er bewegte die Finger und versuchte, einen Schritt vorwärts zu machen, wie das Kind es ihm gezeigt hatte. Er wandte den Kopf zurück und überlegte, ob er seine Kleider holen sollte. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Da ˆel sein Blick noch einmal auf die Tafel gegenüber: „Das Betreten der Schienen ist verboten!“ Und plötzlich überˆel ihn die Angst, sie könnten ihn noch einmal erstarren lassen, lachend, mit weißen Zähnen und einem gleißenden Fleck in jedem seiner Augen; sie könnten ihm den Sand wieder aus dem Haar und den Atem wieder aus dem Mund nehmen, sie könnten die See noch einmal zu einem täuschenden Streifen unter seinen Füßen machen, worin keiner ertrinken konnte, und das Land zu einem hellen Flecken in seinem Rücken, worauf keiner stehen konnte. Nein, er würde seine Kleider nicht holen. Musste die See nicht zur See werden, damit das Land Land sein konnte? Wie hatte das Kind gesagt? So! Er versuchte zu springen. Er stieß sich ab, kam wieder zurück und stieß sich wieder ab. Und gerade, als er dachte, es würde ihm nie gelingen, kam ein Windstoß von der Brücke. Die See stürzte auf die Schienen und riss den Jungen mit sich. Der Junge sprang und riss die Küste mit sich. „Ich sterbe“, rief er, „ich sterbe! Wer will mit mir tanzen?“ Niemand beachtete es, dass eines der Plakate schlechter geklebt worden war, niemand beachtete es, dass eines davon sich losgerissen hatte, auf die Schienen wehte und von dem einfahrenden Gegenzug zerfetzt wurde. Nach einer halben Stunde lag die Station wieder leer und still. Schräg gegenüber war zwischen den Schienen ein heller Flecken Sand, als hätte es ihn vom Meer herübergeweht. Der Mann mit der Leiter war verschwunden. Kein Mensch war zu sehen. Schuld an dem ganzen Unglück waren die Züge, die um diese Zeit so selten fuhren, als ver- wechselten sie Mittag mit Mitternacht. Sie machten die Kinder ungeduldig. Aber nun senkte sich der Nachmittag wie ein leichter Schatten über die Station. Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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