Killinger Literaturkunde, Schulbuch

357 90 95 100 105 110 115 120 125 130 Der Mann auf der Leiter hatte seine Worte längst vergessen. Und wenn es einer Fliege auf dem Rücken seiner Hand eingefallen wäre, ihn daran zu erinnern, so hätte er sie abge- leugnet. Er hatte es in einem Anfall von Verbitterung gesagt, einer Verbitterung, die in ihm gewachsen war, seit er Plakate klebte. Er hasste diese glatten, jungen Gesichter, denn er selbst hatte ein Feuermal 1 auf der Wange. Außerdem musste er Acht geben, dass ihn der Husten nicht von Zeit zu Zeit von der Leiter warf. Aber schließlich lebte er davon, Plaka- te zu kleben. Die Hitze war ihm eben in den Kopf gestiegen, vielleicht hatte er im Traum gesprochen. Schluss damit. Die Frau mit dem Kind war näher gekommen. Drei Mädchen in hellen Kleidern klapperten die Stiegen hinunter. Zuletzt standen alle um seine Leiter und sahen ihm zu. Das schmei- chelte ihm, und es blieb ihm nichts übrig, als zum dritten Mal ein Gespräch über die Hitze zu beginnen. Sie stimmten alle eifrig ein, als wüssten sie endlich den Grund für ihre Freude und für ihre Traurigkeit. Das Kind hatte sich von der Hand der Mutter losgerissen und drehte sich im Kreis. Es wollte schwindlig werden. Aber bevor es schwindlig wurde, ˆel sein Blick auf das Plakat gegenüber. Der Junge lachte beschwörend. „Da!“, rief das Kind und zeigte mit der Hand hinüber, als geˆele ihm der weiße Schaum und die See, die zu grün war. Der Junge hatte keine Macht, den Kopf zu schütteln, er hatte keine Macht, zu sagen: „Nein, das ist es nicht!“ Aber das Rasen hinter seiner Stirne war unerträglich geworden: Sterben – sterben – sterben! Ist das Sterben, wenn die See endlich nass wird? Ist das Sterben, wenn der Wind endlich weht? Was ist das: Sterben? Das Kind auf der anderen Seite faltete die Stirne. Es war nicht sicher, ob es die VerzweiŸung in dem Lachen erkannt hatte oder ob es nur das Spiel mit den Gesichtern spielen wollte. Doch der Junge konnte nicht einmal die Stirne falten, um dem Kind eine Freude zu machen. Sterben – dachte er –, sterben, dass ich nicht mehr lachen muss! Ist das Sterben, wenn man seine Stirne falten darf? Ist das Sterben?, fragte er stumm. Das Kind streckte seinen Fuß ein wenig vor, als wollte es tanzen. Es warf einen Blick zu- rück. Die Erwachsenen waren in ihr Gespräch vertieft und beachteten es nicht. Sie redeten jetzt alle auf einmal, um gegen die Stille der Station aufzukommen. Das Kind ging an den Rand, betrachtete die Schienen und lächelte hinunter, ohne die Tiefe zu messen. Es hob den Fuß ein Stück über den Rand und zog ihn wieder zurück. Dann lachte es wieder zu dem Jungen hinüber, um ihm das Spiel zu erleichtern. „Was meinst du?“, fragte sein Lachen zurück. Das kleine Mädchen hob die Schürze ein wenig. Es wollte mit ihm tanzen. Aber wie sollte er tanzen, wenn er nicht sterben konn- te, wenn er immer so bleiben musste, jung und schön, die Arme erhoben, halbnackt im weißen Gischt? Wenn er sich niemals in die See werfen konnte, um auf die andere Seite zu tauchen, wenn er niemals zurück an Land gehen durfte, um seine Kleider zu holen, die im gelben Sand versteckt lagen? Wenn das Wort Jugend immer über seinem Kopf hing wie ein Schwert, das nicht fallen wollte? Wie sollte er mit dem kleinen Mädchen tanzen, wenn das Betreten der Schienen verboten war? Aus der Ferne hörte man das Anrollen des nächsten Zuges, vielmehr hörte man es nicht, es war nur, als hätte sich die Stille verstärkt, als hätte sich die Helligkeit an ihrem hellsten Punkt in einen Schwarm dunkler Vögel verwandelt, die brausend näher kamen. 1 Feuermal: besonders am Gesicht vorkommendes rotes oder blaurotes Mal u4be6c DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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