Killinger Literaturkunde, Schulbuch

355 Die in Wien geborene Schriftstellerin Ilse Aichinger (geb. 1921) gehört zu den herausragenden Figuren der Nachkriegsliteratur in Österreich. Sie ist besonders durch ihre Kurzgeschichten und den Roman Die größere Hoffnung (1948) bekannt geworden. Die Texte von Ilse Aichinger sind eminent poetisch, sie entgrenzen die Wirklichkeit. 1 5 10 15 20 25 30 35 Ilse Aichinger Das Plakat (1948) „Du wirst nicht sterben!“, sagte der Mann, der die Plakate klebte, und erschrak über seine Stimme, als wäre ihm in der Ÿirrenden Hitze sein eigener Geist erschienen. Dann wandte er den Kopf vorsichtig nach links und rechts, aber da war niemand, der ihn für verrückt halten konnte, niemand stand unter seiner Leiter. Der Stadtbahnzug war eben weggefah- ren und hatte die Schienen wieder ihrem eigenen Glanz überlassen. Auf der anderen Seite der Station stand eine Frau und hielt ein Kind an der Hand. Das Kind sang vor sich hin. Und das war alles. Die Stille des Mittags lag wie eine schwere Hand über der Station, und das Licht schien von seinem eigenen Übermaß überwältigt zu sein. Der Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen Maß bereit, zu schützen und einzu- stürzen, und die Telegraphendrähte hatten längst zu singen aufgehört. Die Ferne hatte die Nähe verschlungen und die Nähe die Ferne. Es war kein Wunder, dass nur wenige Leute um diese Zeit mit der Stadtbahn fuhren, vielleicht hatten sie Angst, zu Gespenstern zu werden und sich selbst zu erscheinen. „Du wirst nicht sterben!“, wiederholte der Mann verbittert und spuckte von der Leiter. Ein Flecken Blut blieb auf den hellen Steinen. Der Himmel darüber schien plötzlich vor Schreck erstarrt. Es war fast, als hätte ihm einer erklärt: Du wirst nie Abend werden, als wäre der Himmel selbst zum Plakat geworden und stünde nun grell und groß wie die Werbung für ein Seebad über der Station. Der Mann warf den Pinsel in den Eimer zurück und stieg von der Leiter. Er ˆel mit dem Rücken gegen die Mauer, hatte aber gleich darauf den Schwindel überwunden, nahm die Leiter über die Schulter und ging. Der Junge auf dem Plakat lachte schreckerfüllt mit weißen Zähnen und starrte geradeaus. Er wollte dem Mann nachschauen, hatte aber keine Möglichkeit, den Blick zu senken. Seine Augen waren aufgerissen. Halbnackt, die Arme hochgeworfen, im Lauf festgehalten wie zur Strafe für Sünden, von denen er nichts wusste, stand er im weißen Gischt, über sich den Himmel, der zu blau, und hinter sich den Strand, der zu gelb war, und lachte verzweifelt auf die andere Seite der Station, wo das Kind vor sich hin sang und die Frau verloren und sehn- süchtig nach ihm hinübersah. Er hätte ihr gerne erklärt, dass es eine Täuschung war, dass er nicht die See vor sich hatte, wie das Plakat glauben machen wollte, sondern ebenso wie sie nur den Staub und die Stille der Station und die Tafel mit der Aufschrift: „Das Betreten der Schienen ist verboten!“ Und er hätte ihr sein Lachen geklagt, das ihn zur VerzweiŸung brachte wie der Gischt, der ihn umsprang, ohne zu kühlen. Der Junge auf dem Plakat hätte niemals auf solche Ideen kommen dürfen. Weder das Mäd- chen links von ihm, das einen Blumenstrauß aus einem ganz bestimmten Blumenladen an die Brust gepresst hielt, noch der Herr rechts von ihm, der eben gebückt aus einem blitz- blauen Auto stieg, fanden irgend etwas daran. Es ˆel ihnen nicht ein, sich aufzulehnen. Das Mädchen hatte kein Verlangen, den Strauß, den es kaum halten konnte, aus seinen rosigen Armen zu lassen, und die Blumen hatten kein Verlangen nach Wasser. Und der Herr mit dem Auto schien seine gebückte Haltung für die einzig mögliche zu halten, denn er lächelte vergnügt und dachte nicht daran, sich aufzurichten, das Auto abzusperren und den hellen Entgrenzte Wirklichkeit 2is7nn DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=