Killinger Literaturkunde, Schulbuch

352 MoDERnE EpIscHE foRMEn DIE kuRZgEscHIcHTE Das Wort ist eine Lehnübersetzung des amerikanischen „short story“, doch man fasst den deut- schen Begriff enger als den englischen, der jede vergleichsweise kurze Geschichte benennt. Die Kurzgeschichte ist nicht nur durch inhaltliche und sprachliche Merkmale sowie durch Strukturmerk- male, sondern auch durch äußere Bedingungen gekennzeichnet. Kurzgeschichten wurden vor allem in Zeitungen publiziert und lösten dort das Feuilleton des 19. Jahrhunderts ab. Der Begriff der Kurzgeschichte ist nicht scharf zu umgrenzen. Eines der Merkmale einer Kurzge- schichte ist der abrupte Einstieg, der Sprung mitten in das Geschehen. Die Vorgeschichte wird – wenn überhaupt notwendig – erst später erzählt. Das dargestellte Problem wird in der Geschichte nicht geklärt. Vielfach ist es der Leserin oder dem Leser überlassen, den offenen Schluss selbst zu interpretieren und die Handlung in Gedanken weiterzuführen. Charakteristisch sind die einsträngige Handlung, die knappe Darstellung und die Konzentration auf eine außerordentliche Begebenheit. Siegfried Lenz (geb. 1926) beschreibt in Bezug auf seine Kurzgeschichten die Intentionen und Ge- staltungsprinzipien der Autorinnen bzw. Autoren so: 1 5 Eine Geschichte will nicht abbilden, beschreiben, berichten, was sich so oder so ereignete oder hätte ereignen können. Sie ist weiter nichts als die Spiegelung der Sekunde, in der das Tellereisen zuschnappt; das Ablösen und der Transport der Beute werden dem Leser überlassen. Freilich, es kommt viel auf die Placierung der Falle an und auf ihre Tarnung. (Klappentext zu den Gesammelten Erzählungen 1970) Die Autorinnen und Autoren der unmittelbaren Nachkriegszeit wollten in ihren Kurzgeschichten die sie bedrängenden Kriegserlebnisse darstellen und verarbeiten. Sie wurden daher „hastig her- untergeschrieben“ (Wolfdietrich Schnurre). Nicht die künstlerischen Gestaltungsmittel standen im Vordergrund, sondern die seelische Not, mit dem Erlebten fertig zu werden. Wolfgang Borchert (1921 – 1947) hat dies in seinem Text Das ist unser Manifest (1947) so ausgedrückt: Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. Merkmale der Kurzgeschichte Nu zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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