Killinger Literaturkunde, Schulbuch

350 Aber nicht nur die Autorinnen und Autoren, sondern auch die technischen Entwicklungen veränder- ten das Hörspiel. Die Stereophonie eröffnete im Vergleich zum Mono-Hörspiel ganz neue Möglich- keiten: Der Hörraum wurde zweidimensional; Stimmen und Geräusche können sich nicht nur nähern und entfernen, sondern auch von links oder von rechts kommen und von einer Seite auf die andere wandern. Diese Effekte ermöglichten eine neue Choreographie. Der Rundfunk fasst heute den Begriff „Hörspiel“ viel weiter als die Literaturwissenschaft: Man zählt kurze Märchen, Gespenster- und Abenteuerspiele im Kinderfunk ebenso dazu wie historische Hör- bilder und reportageartige Berichte mit verteilten Stimmen. Die einfachste Form des Hörspiels ist der Wechsel von Erzählerstimme und Zitatensprecher. Diese Art Hörspiel oder Hörbild wird eingesetzt, um Sachfragen populärwissenschaftlich zu erläutern, Biographien lebendig darzustellen oder aktu- elle Probleme zu veranschaulichen (Feature). Radiosender verfügen über Hörspielredaktionen, deren Regie und Technik den Text der Autorin oder des Autors ins Hörspiel umsetzen. Die Wirkung eines Hörspiels hängt weitgehend von seiner Insze- nierung ab. Besonderes Geschick der Autorin bzw. des Autors und der Regie erfordert der Anfang, weil die ersten Minuten entscheiden, ob die Hörer/innen weiter zuhört oder nicht. Film, Fernsehen und Bühne haben es da wesentlich leichter. 1 5 Ein Theaterstück beginnt damit, dass wir Figuren auf der Bühne in einer durch Dekoratio- nen angedeuteten Umgebung sehen und über deren Zeit, Alter, Stand, Beziehungen zuein- ander schon zu einem guten Teil durch unsere Augen unterrichtet werden. Auch von der äußeren Handlung, die sich entwickelt, drückt sich nicht wenig im Sichtbaren, in Mienen, Gesten, Gängen, Requisiten aus. Lediglich die eigentliche, die innere Handlung wird uns erst durch Sprache zugänglich [...] 1 Der Aufbau der Hörspielhandlung ist meist geradlinig; es gibt kaum Nebenhandlungen. Der Text konzentriert sich auf die rasch fortschreitende Darstellung eines Problems, um die Hörer/innen nicht zu überfordern. Die meisten Hörspiele kommen mit wenigen Figuren aus; viele Stimmen verwir- ren leicht. Die Stimmen müssen im Dialog gut und leicht zu unterscheiden sein, weswegen man gegensätzliche Figuren bevorzugt: Mann – Frau, junger – alter Mensch, emotionale – rationale Stimmfärbung. Dialogpartien sind nicht sehr umfangreich, damit die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner im Bewusstseinsraum der Hörer/innen bleibt. Eine besondere Rolle spielt der Monolog. Er kann erzählen oder berichten; er kann als eine Art Bekenntnismonolog die Hörerin bzw. den Hörer zum Partner machen und so eine vertraute Atmo- sphäre schaffen; er kann als innerer Monolog (vgl. Seite 244) den Abstand zwischen berichtendem Subjekt und berichteter Objektwelt aufheben und das Publikum in das Bewusstsein der Figur verset- zen. Der innere Monolog ist ein episches Element im Hörspiel. Das Hörspiel ist hier im Vorteil, denn ein gehörter Monolog wirkt eindringlicher als ein gelesener. Jeder „Auftritt“ und jeder „Abgang“ erfordert sorgfältige Gestaltung, damit die Hörerin oder der Hörer die Veränderung der Situation erkennt. Wenn zwei Figuren miteinander sprechen und es er- tönt plötzlich eine dritte Stimme, muss sich das Publikum neu orientieren, es muss sich in die verän- derte Situation hineinhören, muss kombinieren und braucht dazu Hilfen von der Autorin oder vom Autor und von der Regie. Ähnlich ist es beim „Abgang“: Eine Stimme ist nicht mehr zu vernehmen. Ist die Figur weg? Hört sie zu? – Eine Figur ist nur da, indem sie spricht. Wenn sie nicht hörbar ist, schwindet sie rasch aus dem Vorstellungsraum der Zuhörenden. Geradliniger Aufbau 1 Heinz Schwitzke, Das Hörspiel – Form und Bedeutung. In: Theorie des Hörspiels , Stuttgart: Reclam 1978, RUB 9546, S. 36f. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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