Killinger Literaturkunde, Schulbuch

349 DAs HöRspIEL Das Hörspiel ist eine literarische Form eigener Art mit den spezifischen Möglichkeiten seines Me- diums (Radio, CD, MP3, Internet-Stream ...) und spezifischen Wirkungen. Gesprochene Sprache, Geräusche und Musik werden der Hörerin bzw. dem Hörer vermittelt, der die akustischen Signale als sinntragende Zeichen aufnimmt, die in ihm eine „innere Bühne“ entstehen lassen. Die Konzentration auf das, was aus dem Lautsprecher oder Kopfhörer zu hören ist, schaltet andere Wahrnehmungen weitgehend ab und führt so zu einer Steigerung der vermittelten Gehörseindrü- cke. Der nur gesprochene Text erfordert mehr Aufmerksamkeit und erhält dadurch mehr Gewicht; er muss nicht mit den optischen Reizen, die z. B. von einer Bühne ausgehen, konkurrieren. Deswegen hat das Hörspiel von Anfang an gerade die guten Schriftsteller/innen in seinen Bann gezogen. Die ersten Hörspiele sind fast so alt wie der Rundfunk selbst: 1924 hat die kaum ein Jahr alte Ein- richtung Radio bereits Hörspiele gesendet, allerdings zunächst eine Art Radiotheater, das sich häufig mit der Bearbeitung von vorhandenen Schauspielen begnügte und die Möglichkeiten des Hörfunks noch nicht recht zu nutzen verstand. Das erste für den Funk produzierte Hörspiel, Danger (1924) von Richard Hughes (1900 – 1976), spielt in einem Bergwerk, in dem plötzlich der Strom ausfällt, sodass sich eine – realistisch wiedergegebene – Grenzsituation ergibt, die das Fehlen des Bildes plausibel erscheinen lässt. Die große Zeit des literarischen Hörspiels begann nach dem Zweiten Weltkrieg, also in einer Periode, als es noch kein Fernsehen gab, in der aber die Aufnahmetechnik bereits eine Fülle von Effekten zuließ. Die Generation von Autorinnen und Autoren, die den Krieg mitgemacht und die Kurzge- schichte auf einen Höhepunkt geführt hatte, brachte auch das Hörspiel zur Entfaltung: Wolfgang Borchert (1921 – 1947): Draußen vor der Tür Heinrich Böll: Bilanz , Klopfzeichen u. a. Günter Eich: Träume , Das Mädchen aus Viterbo u. v. a. Max Frisch: Rip van Winkle , Herr Biedermann und die Brandstifter Ingeborg Bachmann: Der gute Gott von Manhattan Wolfgang Hildesheimer (1916 – 1991): Begegnung im Balkanexpress Fred von Hoerschelmann (1901 – 1976): Das Schiff Esperanza In den späten 1960-er Jahren erfuhr nicht nur die kurze Prosa (vgl. Seite 352ff.), sondern auch das Hörspiel wesentliche Veränderungen. Das literarische Hörspiel mit seinem sprachlichen Anspruch und seinem Appell an das verinnerlichte Erlebnis geriet ins Feuer der Kritik. Die junge Generation von Autorinnen und Autoren erstrebte ein „totales Schallspiel“ (Friedrich Knilli), in dem die poeti- sche Sprache in einzelne Worte und Laute aufgelöst wird und Geräusche in den Vordergrund treten. Ein Beispiel für das neue Hörspiel ist Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Gemeinschaftsproduk- tion Fünf Mann Menschen (1969). Das Textbuch ist nun dem filmischen Drehbuch ähnlich, es gibt Anweisungen für die Erzeugung von Lauten und Geräuschen. Der Dialog, mit dem bisher ein Thema entwickelt wurde, ist aufgelöst. Die Sprache ist kein geeignetes Mittel mehr, sich zu verständigen. Neben diesem „Neuen Hörspiel“, das der konkreten Poesie nahe steht (vgl. Seite 311f.) und experi- mentellen Charakter hat, entsteht das realistische, zeitkritische Problemstück, das aktuelle politische Themen, öffentliche Skandale und Ähnliches thematisiert. Von hier ist es nur noch ein Schritt zum Originalton-Hörspiel, in dem mit Tonband aufgenommene Gesprächsteile und Geräusche montiert werden. So ist Paul Wührs (geb. 1927) Preislied (1971) ein Verschnitt aus Interviews mit Münch- nern über die politische Lage und die Lebensbedingungen heute. Innere Bühne Akustische Reize im Mittelpunkt Blütezeit des literarischen Hörspiels „Totales Schallspiel“ Originalton k4t5dp DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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