Killinger Literaturkunde, Schulbuch

341 10 15 20 25 30 35 Krieg nicht hinter euch? So verstärkt die friedliche Gegenwart und zeigt die Ruhe von Überlebenden: das Ich ist ruhig. Und das Wissen, dass ihr Überlebende seid, macht zu- gleich heiß. Hier ist das Gegenhaus zu einem Krankenhaus, und was von weitem vielleicht der drohende Kopf des Todes war, entfaltet sich beim Näherkommen als Kinderspiel. Die schwarzen Augenhöhlen gehören zu einem freundlichen alten Mann. Schüttelt euer Jahr- tausendbett frisch. Bewegt euch. Die lebenslang Siechen, das seid nicht ihr. Eure Kunst für die Gesunden, und die Künstler sind die Lebensfähigen – sie bilden das Volk. Übergeht die kindfernen ZweiŸer. Wartet nicht auf einen neuen Krieg, um geistesgegenwärtig zu werden: die Klügsten sind die im Angesicht der Natur. Blickt ins Land – so vergeht die böse Dumm- heit. [...] So lasst euch nicht nachsagen, ihr hättet den Frieden nicht genutzt zu Werken: euer Arbeiten soll ein Wirken sein – gebt etwas weiter. Weitergeben tun aber nur, die etwas lieben: liebt eines – es genügt für alles. Die Liebe erst ermöglicht die Sachlichkeit. [...] Ja, überliefert form-sehnsuchts-durchdrungen die heile Welt – das Hohnlachen darüber ist ohne Bewusstsein. (Es hat den falschen Namen: es sind die Krepierlaute der Seelenkadaver.) Mephisto ist hier nicht die Hauptˆgur. Die Gegensprech- anlage ist ohne Strom. Die Seelenfänger treten woanders auf; und wenn euch ein Tod Angst macht, dann habt ihr ihn falsch gelesen. Die Toten sind das zusätzliche Licht – sie verwan- deln euch. Macht euch nichts aus eurer Unfähigkeit, sie anzureden: eine Silbe genügt. Lasst euch nicht mehr einreden, wir wären die Lebensunfähigen und Fruchtlosen einer End- oder Spätzeit. Weist mit Entrüstung zurück das Geleier von den Nachgeborenen. Wir sind die Ebenbürtigen. Wir hier sind so nah am Ursprung wie je, und jeder von uns ist bestimmt zum Welteroberer. Soll die Zeit des Lebens nicht die Episode des Triumphs sein? [...] Ihr seid jetzt, und ihr seid die Gültigen. Dass ihr seid, ist ein Datum. Handelt danach. [...] In der Erschütterung erst seht ihr scharf. Die Form ist das Gesetz, und das Gesetz ist groß, und es richtet euch auf. Der Himmel ist groß. Das Dorf ist groß. Der ewige Friede ist möglich. Hört die Karawanenmusik. Zieht dem allesdurchdringenden, allesumfassenden, alles würdi- genden Schall nach. Richtet euch auf. [...] Haltet euch an dieses dramatische Gedicht. Geht ewig entgegen. Geht über die Dörfer. 39. Vergleichen Sie die beiden Haltungen, die Handke in diesen Textausschnitten einander gegen- überstellt: • Beschreiben Sie, welche Werte Handke hervorhebt. • Erläutern Sie, gegen wen er sich wendet. • Diskutieren Sie, in welcher Rolle er die Künstler/innen sieht. • Kommentieren Sie, was er über die Form sagt. In seinen letzten zwei Lebensjahrzehnten schrieb Thomas Bernhard überwiegend Theaterstücke, die ihn durch Fernsehübertragungen weithin bekannt gemacht haben: Die Macht der Gewohnheit (1974), Minetti (1977), Der Theatermacher (1984), Ritter, Dene, Voss (1984), Heldenplatz (1988), Der deutsche Mittagstisch (1988) u. a. Auch im Drama verweigert sich Bernhard der Tradition. Das Wort „Drama“ bedeutet Handlung, Bernhards Bühnentexte haben jedoch keine Handlung im üblichen Sinn. Sie leben von Monologen, auch wenn mehrere Personen auf der Bühne stehen, sie entwickeln Gedanken, zeigen Zustände oder Missstände auf, meist sehr aggressiv, „beliebige Befreiungsschläge eines zutiefst Gekränkten“. Die Personenkonstellationen der Stücke sind ähnlich, die Protagonisten nähern sich immer mehr dem Komischen, Parodistischen, ihr „behaglich-böser Wortschwall macht sie zu raunzenden Be- schwörern des Imperfekten“. Negative Weltsicht 84qf86 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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