Killinger Literaturkunde, Schulbuch

335 DARsTELLung DER fRAu IM DRAMA Im 18. und 19. Jahrhundert haben fast ausschließlich männliche Schriftsteller Frauenfiguren ge- schaffen, Lessing (Emilia Galotti), Schiller (Maria Stuart), Goethe (Iphigenie), Hebbel (Maria Mag- dalene), Hauptmann (Rose Bernd). Besonders wichtig für die Darstellung der Frau im Drama war das Stück Nora. Ein Puppenheim (1879) des Norwegers Henrik Ibsen (1828 – 1906), da sich in der Origi- nalfassung Nora von ihrer Umgebung und den gesellschaftlichen Konventio- nen emanzipiert und ihre Familie ver- lässt, um ein eigenständiges Leben zu führen. Nora fälscht auf einem Schuldschein die Unterschrift ihres Vaters. Ohne Wissen ihres Mannes, des Bankdirek- tors Helmer, zahlt sie ihre Schulden ab. Die kriminelle Handlungsweise Noras fliegt durch einen erpresserischen An- gestellten ihres Mannes auf. Es kommt zur Krise in der Ehe und schließlich zur großen Auseinandersetzung: 1 5 10 15 20 HELMER: Freudig würd’ ich Tag und Nacht für dich arbeiten, Nora – Kummer und Not um deinetwillen tragen. Aber niemand opfert derjenigen, die er liebt, seine Ehre . NORA: Das haben Millionen von Frauen getan! HELMER: Ach, du denkst und redest wie ein unverständiges Kind. NORA: Mag sein. Aber du denkst und redest nicht wie der Mann, an den ich mich halten könnte. Als dein Schreck vorüber war – nicht über das, was mir drohte, sondern über das, was dir bevorstand – und als dann nichts mehr zu fürchten war – da war’s in deinen Au- gen, als sei gar nichts geschehen. Ich war wieder wie vorher deine kleine Singlerche, deine Puppe, die du in Zukunft doppelt behutsam auf Händen tragen wolltest, weil sie so zart und zerbrechlich war. (Erhebt sich) Torvald – in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich acht Jahre lang mit einem fremden Manne zusammengelebt, dass ich ihm drei Kinder geboren – oh, der Gedanke ist mir unerträglich! HELMER (mit schwerem Herzen) : Ich seh’ es, ich seh’ es: ein Abgrund hat sich zwischen uns aufgetan. – Aber, Nora, sollte er sich nicht überbrücken lassen? NORA: So wie ich jetzt bin, bin ich keine Frau für dich. HELMER: Ich habe die Kraft, mich zu ändern. NORA: Vielleicht – wenn dir die Puppe genommen ist. HELMER: Mich trennen – mich von dir trennen? Nein, nein, Nora, den Gedanken kann ich nicht fassen. NORA (geht in das Zimmer links): Umso notwendiger muss es geschehen. (Sie kommt mit ihren Überkleidern und einer kleinen Reisetasche zurück, die sie auf den Stuhl neben dem Tische stellt.) [...] Bruch der Konvention Henrik Ibsen, Nora. Ein Puppenheim ; Fotoprobe im Theater in der Josef- stadt in Wien mit Maria Köstlinger als „Nora“ und Herbert Föttinger als „Helmer“, Premiere am 15.9.2005 9ca5x7 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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