Killinger Literaturkunde, Schulbuch

325 25 30 35 40 45 50 55 rotgelockten Wildfang wurde eine Dame, die die Welt mit ihrer Wohltätigkeit überschüttet, man denke nur an ihre Sozialwerke, an ihre Müttersanatorien und Suppenanstalten, an ihre Künstlerhilfe und Kinderkrippen, und so möchte ich der nun Heimgefundenen zurufen: Sie lebe hoch, hoch, hoch! Beifall. Claire Zachanassian erhebt sich. CLAIRE ZACHANASSIAN: Bürgermeister, Güllener. Eure selbstlose Freude über meinen Besuch rührt mich. Ich war zwar ein etwas anderes Kind, als ich nun in der Rede des Bür- germeisters vorkomme, in der Schule wurde ich geprügelt, und die Kartoffeln für die Witwe Boll habe ich gestohlen, gemeinsam mit Ill, nicht um die alte Kupplerin vor dem Hunger- tode zu bewahren, sondern um mit Ill einmal in einem Bett zu liegen, wo es bequemer war als im Konradsweilerwald oder in der Peterschen Scheune. Um jedoch meinen Beitrag an eure Freude zu leisten, will ich gleich erklären, dass ich bereit bin, Güllen eine Milliarde zu schenken. Fünfhundert Millionen der Stadt und fünfhundert Millionen verteilt auf jede Familie. Totenstille. DER BÜRGERMEISTER stotternd : Eine Milliarde. Alle immer noch in Erstarrung. CLAIRE ZACHANASSIAN: Unter einer Bedingung. Alle brechen in einen unbeschreiblichen Jubel aus. Tanzen herum, steigen auf die Stühle, der Turner turnt usw. Ill trommelt sich begeistert auf die Brust. ILL: Die Klara! Goldig! Wunderbar! Zum Kugeln! Voll und ganz mein Zauberhexchen! Er küßt sie. DER BÜRGERMEISTER: Unter einer Bedingung, haben gnädige Frau gesagt. Darf ich diese Bedingung wissen? CLAIRE ZACHANASSIAN: Ich will die Bedingung nennen. Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit. Totenstille. DER BÜRGERMEISTER: Wie ist dies zu verstehen, gnädige Frau? CLAIRE ZACHANASSIAN: Wie ich es sagte. DER BÜRGERMEISTER: Die Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen! CLAIRE ZACHANASSIAN: Man kann alles kaufen. [...] Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet. 30. Besprechen Sie die scheinbar harmlose Begrüßungsszene, mit der Dürrenmatt das Stück eröffnet: • Vergleichen Sie das Bild, das der Bürgermeister in seiner Begrüßungsrede gibt, mit dem, was Claire schildert. • Stellen Sie Vermutungen für Claire Zachanassians Annahme an, mit diesem Angebot Erfolg haben zu können. • Diskutieren Sie, inwieweit Dürrenmatts Analyse der Nachkriegszeit auch heute noch aktuell ist. Die „tragische Komödie“ macht deutlich, wie Verrat entsteht, wie man Gerechtigkeit kaufen kann und wie sehr der Mensch verführbar ist. Zwar drückt der Bürgermeister zuerst lauthals die Empörung aller aus: Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. gt86gx DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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