Killinger Literaturkunde, Schulbuch

324 bei Henrik Ibsen (1828 – 1906), Gerhart Hauptmann und George Bernard Shaw (1856 – 1950) findet man tragikomische Situationen. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die an das epische Theater anschließen, entwickeln die Tragikomödie zu einer perfekten dramatischen Form, die sehr bühnenwirksam ist. Neben Dürrenmatts Besuch der alten Dame (1956 uraufgeführt) und Die Phy- siker (1962) kann man Frischs Lehrstück Biedermann und die Brandstifter (1958) als Tragikomödie bezeichnen. In seinem ersten Stück, Komödie (1947) genannt, lässt Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990) den Besoffenen sagen: Wir sind eingeschlossen in eine Hölle von Fragen, die keiner beantworten kann, und unsere Strafe ist, „warum“ zu schreien. Die Dramen Dürrenmatts sind Beispiele für diese Hölle von Fragen. Komödien schreiben ist für den Schweizer Dichter ein Spiel mit den Möglichkeiten in der Welt. Die Wirklichkeit liefert den Hinter- grund seiner Tragikomödien. In Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame ist die Kleinstadt Güllen vom Bankrott bedroht, Gemein- de und Bewohner sind tief verschuldet. Die Milliardärin Claire Zachanassian (insgeheim die Verur- sacherin des finanziellen Ruins) scheint Abhilfe schaffen zu können. Sie musste vor fünfundvierzig Jahren als Kläre Wäscher mit einem unehelichen Kind die Stadt verlassen. Ihr Liebhaber Ill hatte sie vor Gericht als Dirne hingestellt und dann eine andere geheiratet; nun betreibt er ein Geschäft im Ort. Das Stück beginnt mit dem großen Empfang für die Witwe des Ölmagnaten Zachanassian aus Amerika. Blasmusik, Blumensträuße, der Bürgermeister hält eine Begrüßungsansprache: 1 5 10 15 20 DER BÜRGERMEISTER: Gnädige Frau, meine lieben Güllener. Es sind jetzt fünfundvierzig Jahre her, dass Sie unser Städtchen verlassen haben, welches, vom Kurfürsten Hasso dem Noblen gegründet, so freundlich zwischen dem Konradsweilerwald und der Niederung von Pückenried gebettet liegt. Fünfundvierzig Jahre, mehr als vier Jahrzehnte, eine Menge Zeit. Vieles hat sich inzwischen ereignet, viel Bitteres. Traurig ist es der Welt ergangen, traurig uns. Doch haben wir Sie, gnädige Frau – unsere Kläri – Beifall – nie vergessen. Weder Sie, noch Ihre Familie. Die prächtige, urgesunde Mutter – Ill üstert ihm etwas zu – leider allzu früh von einer Lungenschwindsucht dahingerafft, der volkstümliche Vater, der beim Bahn- hof ein von Fachkreisen und Laien stark besuchtes – Ill üstert ihm etwas zu – stark beach- tetes Gebäude errichtete, leben in Gedanken noch unter uns, als unsere Besten, Wackersten. Und gar Sie, gnädige Frau – als blond – Ill üstert ihm etwas zu – rotgelockter Wildfang tollten Sie durch unsere nun leider verlotterten Gassen – wer kannte Sie nicht. Schon da- mals spürte jeder den Zauber Ihrer Persönlichkeit, ahnte den kommenden Aufstieg zu der schwindelnden Höhe der Menschheit. Er zieht das Notizbüchlein hervor. Unvergessen sind Sie geblieben. In der Tat. Ihre Leistung in der Schule wird noch jetzt von der Lehrerschaft als Vorbild hingestellt, waren Sie doch besonders im wichtigsten Fach erstaunlich, in der PŸanzen- und Tierkunde, als Ausdruck Ihres Mitgefühls zu allem Kreatürlichen, Schutz- bedürftigen. Ihre Gerechtigkeitsliebe und Ihr Sinn für Wohltätigkeit erregten schon damals die Bewunderung weiter Kreise. Riesiger Beifall. Hatte doch unsere Kläri einer armen alten Witwe Nahrung verschafft, indem sie mit ihrem mühsam bei Nachbarn verdienten Taschengeld Kartoffeln kaufte und sie so vor dem Hungertode bewahrte, um nur eine ihrer barmherzigen Handlungen zu erwähnen. Riesiger Beifall. Gnädige Frau, liebe Güllener, die zarten Keime so erfreulicher Anlagen haben sich denn nun kräftig entwickelt, aus dem Spiel mit den Möglichkeiten in der Welt Käufliche Gerechtigkeit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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