Killinger Literaturkunde, Schulbuch

323 MoDERnEs DEuTscHEs DRAMA DAs BÜRgERL IcHE pRoBLEMsTÜck Das bürgerliche Problemstück möchte dem Zuseher einen Spiegel vorhalten, allerdings versteckt in einem vordergründig unterhaltsamen Theaterspaß, bei dem ihm unversehens ein tiefer Schock versetzt wird. In dem Essay Theaterprobleme (1955) schreibt Friedrich Dürrenmatt: 1 5 10 Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech. Nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe, wie ja die apokalyptischen 1 Bilder des Hieronymus Bosch auch grotesk sind. Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox 2 , die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genau so wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr. 29. Analysieren Sie den Hintergrund, vor dem Dürrenmatt diesen Text schrieb: • Erläutern Sie, welche geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignisse Dürrenmatt erlebt hat. • Kommentieren Sie, wie laut Dürrenmatt die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerechtfertigt wurden. Die Groteske Eine Groteske entsteht, wenn sich Komisches und Schreckliches verbinden. Das Lachen wird jäh von Entsetzen erstickt, das Lustige kippt ins Tragische um. Die Groteske kann in epischen und dramatischen Formen auftreten. In einer als grotesk erlebten Wirklichkeit wird die Groteske zur angemessenen Darstellungsweise. Groteske Züge finden sich in Werken von Franz Kafka, Bertolt Brecht, Günter Grass (geb. 1927), Max Frisch (1911 – 1991) und Friedrich Dürrenmatt. Die Tragikomödie ist die bevorzugte Form des bürgerlichen Problemstücks, in der tragische und komische Elemente vereint sind. Das Komische wird nicht etwa als Einlage geboten; vielmehr kann das Tragische jederzeit ins Komische umschlagen und umgekehrt. Schon die Stücke Molières (1622 – 1673, Der Misanthrop , Der Geizhals , Tartuffe ) sind Tragikomödien in diesem Sinn. Auch 1 apokalyptisch: auf das Weltende hinweisend, Unheil bringend 2 Paradox: etwas, was einen Widerspruch in sich selbst enthält i2g9sf DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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