Killinger Literaturkunde, Schulbuch

315 20. Beobachten Sie die besondere Bedeutung des Klangbilds und der einzelnen Silben: • Beschreiben Sie, welcher Effekt sich einstellt, wenn dieser Text laut vorgelesen wird. • Erläutern Sie, welche Assoziationen Sie mit den verwendeten Silben verknüpfen. • Stellen Sie Vermutungen an, welche Bedeutung die graphische Form hat. Friederike Mayröcker (geb. 1924 in Wien) sieht sich zwischen den beiden Stilrichtun- gen Dadaismus und Surrealismus, möchte aber keiner Strömung zugeordnet und damit festgelegt werden. In dem Band Ein Gedicht und sein Autor. Lyrik und Essay (1967), herausgegeben von Walter Höllerer, liefert Mayröcker vielleicht einen Schlüssel für ihre Texte: 1 5 Ich fürchte, wir sind wie Leute, die am Morgen nach einer Unzahl von Träumen versuchen, diesen verästelten komplizierten Traumkörper nachzuziehen, bald aber enttäuscht ablassen, weil es unbefriedigend ist, Vages zu ˆxieren. Die weni- gen Knotenpunkte des Traums konnte man ja reproduzieren, aber das Eigentli- che, das Vibrierende, das weit Ausgesponnene, das Intensive, das Faszinierende, die Farbe konnte man nicht wiederherstellen; es ist nicht wiederzugeben, es war da als Traum, man hatte es sozusagen als Traum produziert, und das war schon das Beste, was man tun konnte. An einer anderen Stelle heißt es: Das „freie“ oder „totale“ Gedicht, das ich anstrebe, ist meiner Vorstellung nach ein Gedicht, das einen Ausschnitt aus der Gesamtheit meines Bewusstseins von Welt bringt. „Welt“ verstanden als etwas Vielschichtiges, Dichtes, Bruchstück- haftes, UnauŸösbares. Friederike Mayröckers Texte lesen sich wie eine Traumsprache, offen, sprunghaft, aber voller poeti- scher Stimmungen und Bilder: 2 4 6 8 10 12 Friederike Mayröcker (1960–1962) Die marmorne die steinkühle die vorfrühlingsgraue Zauberei die ahnungsvolle Ÿügelschlagende Zauberei hat mich endlich berührt. Ich erkenne dass ich nichts mehr vermag gegen sie als mich ihr hinzugeben mit sinkenden Armen berstenden Lidern, mit vergeblichen Zauberformeln die niemand aufgeschrieben hat. Du hast mich so mächtig verzaubert, dass ich nun nicht mehr weiß was ich dir für einen Namen geben soll ob ich dich rufen darf ob ich dir mein Lächeln nachsenden soll wie einen Brief über die Hügel der Stadt über den nächtlichen Strauß der Sterne durch den Blasebalg des Winds. Theodor de Bry (1528 – 1598), Mnemosyne ; 1580, Kupferstich, Archiv für Kunst und Geschichte Berlin. Mnemosyne ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, sie wurde namensgebend für die Gedächtniskunst. f5bi75 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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